VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 09.11.2006 - 2 K 1559/06 - asyl.net: M9436
https://www.asyl.net/rsdb/M9436
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Unionsbürger, Gemeinschaftsrecht, Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, zwingende Gründe, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: AufenthG § 53 Abs. 1; ARB Nr. 1/80 Art. 7; ARB Nr. 1/80 Art. 14; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3 Bst. a
Auszüge:

Im Übrigen ist die zulässige Klage auch begründet.

Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass dem Kläger die Rechtsstellung des Art. 7 ARB 1/80 zugute kommt.

Zwar erfüllt der Kläger aufgrund seiner im Tatbestand aufgeführten letzten Straftat den grundsätzlich zu einer zwingenden Ausweisung führenden Tatbestand des § 53 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG. Aufgrund seiner Rechtsstellung als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger genießt der Kläger jedoch den besonderen Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 und kann nach der Rechtsprechung des BVerwG nur noch auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG aus ausnahmslos spezialpräventiven Gründen ausgewiesen werden, wobei als maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage die letzte mündliche Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgebend ist (vgl. BVerwG, Urteile v. 03.08.2004 - 1 C 30/02 - u. 1 C 29/02 -; 06.10.2005 - 1 C 5/04 -).

Die Kammer kann offen lassen, ob der Beklagte die Ausweisung des Klägers ermessensfehlerfrei verfügt und die Vorgaben des EuGH und des BVerwG, die bei der Ausweisung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger zu berücksichtigen sind, beachtet hat (vgl. die vorstehenden Urteilszitate). Denn die Ausweisungsverfügung beachtet nicht, dass der Kläger nach Art. 28 Abs. 3 lit.a der Richtlinie 2004/38 EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (nachfolgend: RL) hätte nicht ausgewiesen werden dürfen. Art. 28 Abs. 3 lit.a RL bestimmt, dass gegen Unionsbürger eine Ausweisung nicht verfügt werden darf, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden, wenn sie ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedsstaat gehabt haben.

Mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG in nationales Recht am 30. April 2006 (Art. 40 Abs. 1 RL) gilt diese auch unmittelbar, und die Einzelheiten des Ausweisungsschutzes richten sich nunmehr nach Art. 28 RL als weiterer Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06 -; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 12.05.2005 - A 3 S 358/05 -; Nieders. OVG, Beschl. v. 05.10.2005 - 11 ME 247/05 -; m.w.N.).

Art. 28 RL gilt auch für türkische Staatsangehörige, die, wie der Kläger, ein direkt aus Art. 6, 7 ARB 1/ 80 resultierendes Aufenthaltsrecht in einem Mitgliedstaat der EG haben (§ 4 Abs. 5 AufenthG dokumentiert dieses Aufenthaltsrecht nur durch die Ausstellung einer - deklaratorischen - Aufenthaltserlaubnis, vgl. Hailbronner, AuslR, § 4 AufenthG, Rd.Nr. 61 ff, m.w.N.). Denn da die Vorschriften der Art. 6 bis 16 ARB 1/80 und damit auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 der Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und ihrer Familien dienen und sich an Art. 39, 40 und 41 EG orientieren (EuGH, Urteil v. 10.02.2000 - C-340/97 [Nazli] Slg. 2000 I-957), hat der EuGH hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die im EG-Vertrag verankerten Freizügigkeitsrechte so weit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer übertragen werden müssen, die eine Rechtsstellung nach dem ARB 1/80 besitzen (vgl. Urteile v. 02.06.2005 - C-138/03 -; v. 11.11.2004 - C-467/02 - [Cetinkaya]). Wegen der Übereinstimmung des Wortlauts von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 mit dem des Art. 39 Abs. 3 EG und im Hinblick auf das Ziel der Assoziationsvereinbarung mit der Türkei stellt der EuGH in seiner Rechtsprechung bei der Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehenen Beschränkung von Rechten nach dem Assoziationsbeschluss aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darauf ab, wie die gleiche Beschränkung der Rechte von freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern ausgelegt wird. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es deshalb nahe, den gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken in gleicher Weise materiell-rechtlich zu begründen und auszugestalten wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger ( BVerwG, Urteil v. 03.08.2004 - 1 C 29.02 -). Dementsprechend haben der EuGH und das Bundesverwaltungsgericht die konkreten Einzelheiten des Ausweisungsrechts aus der Richtlinie 64/221 EWG, die durch Art. 38 Abs. 2 RL mit Wirkung vom 30.04.2006 aufgehoben worden ist, als Konkretisierung des Art. 39 Abs. 3 EG hergeleitet (Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, Berücksichtigung neuer Umstände und weitere Behördenentscheidung).

Mit der Richtlinie 2004/38/EG ist - unter Aufhebung früherer Richtlinien, u.a. die Richtlinie 64/221 EWG - die Einschränkbarkeit der Freizügigkeit durch Ausweisungen auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene für Unionsbürger weiter ausgestaltet bzw. konkretisiert worden.

Der Ausweisung des Klägers, der in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet seinen Aufenthalt gehabt hat, ist damit Art. 28 Abs. 3 RL zugrundezulegen. Seine Ausweisung darf danach nicht mehr verfügt werden, es sei denn, die Entscheidung beruht auf zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit, die von den Mitgliedstaaten festgelegt wurden.

Der Bundesgesetzgeber ist noch nicht der Vorgabe des Art. 28 Abs. 3 RL nachgekommen und hat bislang nicht normiert, was unter "zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit" zu verstehen ist. Die Kammer hat daher die im Referentenentwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 13.03.2006 und dort in Art. 2 der Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU vorgesehene Konkretisierung zu Grunde gelegt. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit liegen hiernach nur dann vor, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde oder wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 12.07.2006 - 12 TG 494/06). Diesen Rahmen sprengt das strafrechtliche Verhalten des Klägers (bisher) nicht.