VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 30.01.2007 - M 23 K 06.50875 - asyl.net: M9477
https://www.asyl.net/rsdb/M9477
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Verfolgungsbegriff, Gebietsgewalt, politische Entwicklung, Warlords, Karzai, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Gruppenverfolgung, Hindus, Sikhs, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 3
Auszüge:

Art. 60 Abs. 1 AufenthG ist im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 (Amtsblatt der Europäischen Union L 304/12 v. 30. 9. 2004) - der sogenannten Qualifikationsrichtlinie -, die in Ermangelung einer innerstaatlichen Umsetzung seit dem 10. Oktober 2006 unmittelbare Anwendung findet, richtlinienkonform auszulegen. Hierbei sind die Art. 4 Abs. 4 und 7 bis 10 der Qualifikationsrichtlinie zu beachten.

Nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) der Qualifikationsrichtlinie umfasst der Begriff der Religion "insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind". Die Richtlinie will nicht jegliche Handlung mit Religionsbezug schützen, sondern die mit der Menschenwürde untrennbar verknüpften Glaubensüberzeugungen. Einschränkungen der religiösen Betätigung als solche stellen nur dann Eingriffe im Sinne von Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie dar, wenn die Religionsausübung gänzlich unterbunden wird oder wenn sie zu einer Beeinträchtigung des unabdingbaren Kernbereichs einer Religion führen, auf den zu verzichten dem Gläubigen nicht zugemutet werden kann (vgl. Hinweise des Bundesministeriums des Innern vom 13. Oktober 2006 zur Anwendung der Richtlinie 2004/38/EG des Rates vom 29. April 2004).

Werden diese Grundsätze angewendet, ergibt sich vorliegend, dass der Klagepartei bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von §60 Abs. 1 Satz 1, Satz 4 c) AufenthG droht.

Eine staatliche oder staatsähnliche Gewalt, die bereit und in der Lage wäre, der Klagepartei Schutz zu gewähren, besteht derzeit in Afghanistan nicht (so z.B. auch VG Gelsenkirchen, Urt. v. 28. 4. 2005 - 5a K 2728198.A -; in diese Richtung, wenn auch im Ergebnis offen gelassen etwa OVG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 20. 3. 2003 - 20A 4270/97.A -, juris; VG Sigmaringen, Urt. v. 18. 7. 2005 - A 2 K 11626/3 -, juris; offengelassen neuerdings auch von BVerwG, Urt. v. 1. 11.2005 - 1 C 21/04 -, insbesondere S. 12/13 UA), weshalb der Klagepartei als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Hindus Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG droht.

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist. Die Annahme einer derartigen Gruppenverfolgung setzt allerdings voraus, dass Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst bald Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden.

Nach dem Gutachten von Dr. Danesch an das Verwaltungsgericht Wiesbaden vom 23. Januar 2006 ergibt sich nach Auffassung des Gerichts mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass die Klagepartei bei einer Rückkehr nach Afghanistan Gefahr liefe, als "Gottloser" betrachtet und entsprechenden Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu werden. Danach hatten die Hindus traditionell in der afghanischen Gesellschaft, die tief islamisch geprägt ist, mit Diskriminierung wegen ihrer religiösen Zugehörigkeit zu rechnen. Der Islam, der nur das Christentum und das Judentum als weitere "Bruchreligion" anerkennt, betrachtet die Hindus als Götzendiener und Gottlose. Die im Gutachten eindrucksvoll geschilderten Einzelfälle belegen insgesamt die Folgerung, dass die religiös motivierte Verfolgung von Hindus und Sikhs im heutigen Afghanistan eine Intensität erreicht, die abschiebungsverbotrelevant im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG ist. Hindus und Sikhs sind in ihrer Religionsausübung und kulturellen Identität in einem derartigen Ausmaß eingeschränkt, dass ihre Existenz als eigenständige Minderheit akut bedroht ist. Die Regierung Karsai ist weder in der Lage noch bereit, Hindus Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung zu gewährleisten. Hindus bzw. Sikhs erhalten keine Zurückerstattung enteigneten Besitzes. Ihre religiösen Zeremonien sind mit Verbot belegt. Sie werden von Gemeinden nicht in ihrem Bildungsstreben unterstützt und in Einzelfällen wurden auch Zwangsbekehrungen mit Rückendeckung der staatlichen Justiz nachgewiesen. Zwar sind die Häufigkeit und Intensität von Übergriffen gegenüber Hindus, die anders als andere Volksgruppen in der afghanischen Verfassung keine Erwähnung gefunden haben, nicht in größerem Ausmaß feststellbar. Jedoch ist dies im Wesentlichen auf die geringe Anzahl der noch in Afghanistan lebenden Hindus zurückzuführen (vgl. VG Minden, Urt. v. 8.6.2006 - 9 K 1891/06.A - m.w.N.). Sie leben so gut wie ausschließlich und unter extreme schwierigen Bedingungen in den Tempelbezirken ihrer Gemeinden, deren Gebäudlichkeiten überwiegend zerstört sind (vgl. VG Minden, a.a.O.).

Dass der Staat oder Parteien oder Organisationen im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 b) AufenthG, einschließlich internationaler Organisationen, vor der geschilderten gesellschaftlichen Diskriminierung genügenden Verfolgungsschutz bieten, ist nicht ersichtlich. Zwar ist der Staat unter anderem im Rahmen der Streitigkeit um die Nutzung einer Verbrennungsstätte zu Gunsten der Hindus tätig geworden. In den Fällen alltäglicher Diskriminierung hat er jedoch - soweit ersichtlich - nichts zum Schutz der Betroffenen unternommen. So hat er nicht einmal Maßnahmen gegen die erhebliche Diskriminierung von hinduistischen Schülern in muslimischen Schulen ergriffen (vgl. VG Minden, a.a.O.).