VG Magdeburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 21.12.2006 - 4 A 458/04 MD - asyl.net: M9557
https://www.asyl.net/rsdb/M9557
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Ermessen, Drei-Jahres-Frist, Zuwanderungsgesetz, Rückwirkung, Altfälle, Anwendungszeitpunkt, Entscheidungszeitpunkt, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Krankheit, Herzerkrankung, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides und Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist insoweit rechtmäßig und der Kläger wird dadurch nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Widerrufsentscheidung der Beklagten ist nicht schon aus formellen Gründen rechtswidrig. Der Widerruf ist nicht innerhalb von drei Jahren nach der unanfechtbaren Gewährung von Abschiebungsschutz erfolgt bzw. geprüft worden, wie dies die durch das Zuwanderungsgesetz neu aufgenommene Bestimmung des § 73 Abs. 2 a AsylVfG vorsieht. Denn die Vorschrift des § 73 Abs. 2 a AsylVfG gilt für die Beklagte erst seit dem 1.1.2005. Ihr kommt auch keine Rückwirkung zu.

Der Kläger hat aber Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG, der die Vorschrift des § 53 Abs. 6 AuslG ersetzt.

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dabei greift jedoch die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG für die Beklagte wie für das erkennende Gericht ein. Soweit im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage sowie die medizinische Versorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln und sonstigen unabdingbaren Gütern des täglichen Bedarfs davon auszugehen sein sollte, dass sich daraus eine unter den Schutzbereich des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG fallende erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Klägers ergeben könnte, würde diese zugleich der ganzen Bevölkerung drohen. Die sich aus § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ergebende Sperrwirkung ist nicht nur zu beachten, wenn ein Abschiebestopp-Erlass nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG besteht, sondern auch dann, wenn eine andere ausländerrechtliche Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen erteilte Duldung dem betroffenen Ausländer einen vergleichbar wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt (vgl. zur parallelen Altregelung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG: BVerwG, Urt. v. 12.07.2001, BVerwGE 114, 379; OVG Münster, Beschl. v. 28.12.2001 - 13 A 4338/94.A -).

Eine solche Lage ist für den Kläger gegeben, da nach dem Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom 10.10.2005 zu Irak: Widerruf der Flüchtlingseigenschaft, der den Erlass vom 31.03.2003 - Az.: 42.31-12231-66.1 - abgelöst hat, Abschiebungen in den Irak - auch über die Nachbarstaaten - weiterhin aus tatsächlichen Gründen nicht möglich sind und vollziehbar ausreisepflichtigen irakischen Staatsangehörigen daher Duldungen für sechs Monate zu erteilen und zu erneuern sind (so zum Vorgängererlass auch: OVG LSA, Urt. v. 4.12.2003 - 1 L 234/02 -).

Dem Kläger steht aber aufgrund seiner individuellen Situation Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Das medizinische Gutachten belegt nicht nur, dass die Erkrankung des Klägers mit einer ganz erheblichen Mobilitätseinschränkung verbunden ist. Es kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass der Patient unter ständiger Beobachtung bleiben muss. Bei nicht fachgerechter Kontrolle und Führung des Patienten könne sich der Zustand des Patienten stark verschlechtern, es könne zu einer Lebensgefahr kommen. Ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 24.11.2005 ist die medizinische Versorgungslage im Irak weiterhin angespannt. So führt der Bericht weiter aus, die für die medizinische Grundversorgung besonders wichtigen Primary Health Center seien fast ausnahmslos wegen baulicher, personeller oder Ausrüstungsmängel nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der knappen Ressourcen des irakischen Gesundheitswesens würde für die Behandlung der anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge beansprucht. Unter Berücksichtigung dieser Situation, die sich auch im Jahr 2006 noch nicht grundlegend geändert hat (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29.06.2006), ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund der nicht gesicherten medizinischen Versorgungssituation in seiner Situation bei Rückkehr in den Irak einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre.