OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 14.12.2006 - 1 B 437/06 - asyl.net: M9677
https://www.asyl.net/rsdb/M9677
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Bleiberechtsregelung 2006, IMK-Beschluss, Beschäftigungsverhältnis, Lebensunterhalt, Aufenthaltserlaubnis, Duldung, Arbeitssuche, Zukunftsprognose, Passpflicht, Mitwirkungspflichten, Vorsatz, Ermessen
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 1; VwGO § 123
Auszüge:

Die Beschwerde ist begründet.

Der Antragsteller darf nicht abgeschoben werden, weil er - jedenfalls nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Würdigung - unter die sog. Bleiberechtsregelung (Erlass 05-11-01 des Senators für Inneres und Sport vom 20.11.2006, abrufbar unter www.inneres.bremen.de) fällt.

1. Der Antragsteller hat zwar gegenwärtig keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit der genannten Bleiberechtsregelung. Er erfüllt nämlich nicht die Voraussetzungen der Ziff. 1.2.1 der Bleiberechtsregelung. Danach ist Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, dass der Ausländer in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis steht, sein Lebensunterhalt am 17.11.006 durch eigene legale Erwerbstätigkeit ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen gesichert war und diese Sicherung auch in Zukunft zu erwarten ist. Der Antragsteller besucht eine weiterführende Schule und erhält Sozialleistungen.

Das steht seinem weiteren Aufenthalt aber nicht entgegen. Nach Ziff. 2 der Bleiberechtsregelung ist Ausländern, die mit Ausnahme der Ziff. 1.2.1 die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Ziff. 1 erfüllen, befristet bis zum 30.09.2007 eine Duldung nach § 60a Abs. 1 AufenthG zur Arbeitsplatzsuche zu erteilen. Diese Regelung findet auf Ausländer Anwendung, die gewillt sind und Anstrengungen unternehmen, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu bestreiten. Der Antragsteller ist bereit, neben seiner Schulausbildung einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und - falls erforderlich - auch den Besuch der Höheren Handelsschule abzubrechen, um sich ausschließlich einer Erwerbstätigkeit zu widmen. Es erscheint daher zumindest möglich, dass er bis zum 30.09.2007 seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit wird sichern und einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird erwerben können.

2. Der Antragsteller erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen der Ziff. 1 der Bleiberechtsregelung.

Zwar genügt der Antragsteller gegenwärtig nicht der Passpflicht (Ziff.1.2.2 der Bleiberechtsregelung). Er besitzt keinen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz seines Heimatstaats (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Der Antragsteller ist aber bereit, sich unverzüglich einen gültigen türkischen Pass ausstellen zu lassen. Dazu ist ihm Gelegenheit zu geben.

Der Bleiberechtsregelung lässt sich nicht entnehmen, dass sie nur auf solche Ausländer anwendbar sein soll, die gegenwärtig im Besitz eines Passes sind. Wäre dies beabsichtigt gewesen, hätte es nahe gelegen, ähnlich wie für andere Voraussetzungen auch für das Passerfordernis ausdrücklich einen Stichtag zu benennen. In dem Bleiberechtsbeschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 17. November 2006 (abrufbar unter www.stmi.bayern.de/ministerium/imk/beschluesse), der durch den Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 20.11.2006 umgesetzt werden soll ("wird demzufolge angeordnet"), wird die Passpflicht aber nicht einmal erwähnt.

Die Erfüllung der Passpflicht ist nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes vielmehr Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 5 Abs. 1 AufenthG), nicht aber für die Erteilung einer Duldung. Die Erwähnung der Passpflicht in dem bremischen Erlass zielt ersichtlich darauf ab, der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 1 AufenthG Rechnung zu tragen. Dafür, dass darüber hinaus ein Verstoß gegen die Passpflicht vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sanktioniert werden soll, fehlt jeder Anhaltspunkt.

3. Es lässt sich gegenwärtig auch nicht feststellen, dass der Antragsteller nach Ziff. 1.3.2 des Erlasses von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen ist.

Der Ausschluss in der genannten Ziffer betrifft dem Wortlaut nach Personen, die behördliche Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich hinausgezögert oder behindert haben. Nach Sinn und Zweck der Regelung soll das Fehlverhalten, das im Untertauchen des Ausländers liegt, nicht dadurch prämiert werden, dass der Ausländer allein aufgrund seines Fehlverhaltens in den Genuss eines Bleiberechts kommt, das vergleichbare Ausländer, die sich rechtstreu verhalten und sich der Abschiebung nicht entzogen haben, nicht erlangen. Anknüpfungspunkt für die Ausschlussregelung ist, dass der Ausländer sich "vorsätzlich", also individuell vorwerfbar ausländerrechtswidrig verhalten hat. Bei der Prüfung des Vorsatzes können die Umstände des Einzelfalls nicht unberücksichtigt bleiben. Eine solche Einzelfallprüfung ist im Übrigen auch schon nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen geboten. Eine Verwaltungsvorschrift, die anordnet, von einem behördlichen Ermessen in bestimmter Weise Gebrauch zu machen, schließt nicht aus, dass in atypischen Fällen von der Verwaltungsvorschrift abgewichen werden kann und dass mithin in diesen Fällen eine rechtsfehlerfreie Ermessensentscheidung besondere Ermessenserwägungen erfordert (so ausdrücklich für die Umsetzung von Beschlüssen der Bundesregierung zum Familiennachzug: BVerwG, DöV 1985, 682).

Die Annahme der Antragsgegnerin, der Antragsteller habe aufenthaltsbeendende Maßnahmen vorsätzlich hinausgezögert, begegnet nach diesem Maßstab erheblichen Zweifeln.