VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.01.2007 - A 6 K 1881/06 - asyl.net: M9703
https://www.asyl.net/rsdb/M9703
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Wiederaufgreifen des Verfahrens, neue Sachlage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Verminung, Versorgungslage, Situation bei Rückkehr, medizinische Versorgung, Wohnraum, Kabul, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Krankheit, RANA-Programm, IOM
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG; der Bescheid des Bundesamtes für Migration vom 06.12.2006 ist in seiner Nummer 2 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

Im Hinblick auf § 60 Abs. 7 AufenthG sind zwar individuelle Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit für den Kläger nicht ersichtlich. Bei einer allgemeinen Gefahrenlage, wenn eine Anordnung der obersten Landesbehörde nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht vorliegt, kann ein Abschiebungshindernis i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG aber dann bejaht werden, wenn die Gefahrenlage landesweit so beschaffen ist, dass der von einer Abschiebung Betroffene "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert oder der extremen Gefahr ausgesetzt wäre, mangels ausreichender Existenzmöglichkeit an Hunger oder Krankheit zu sterben" (st. Rspr. seit BVerwG, Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324, vgl. auch Urt. v. 12.07.2001, DVBl 2001, 1531 ff zu § 53 Abs. 6 AuslG).

Von einer solchen extremen Gefahrenlage ist im Falle des Klägers auszugehen. Allerdings liegen hinsichtlich der Versorgungslage unter Berücksichtigung der bei dem Kläger festzustellenden Besonderheiten die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zur Überzeugung des Gerichts vor.

So bezeichnet das Auswärtige Amt (Lageberichte vom 13.07.2006, 21.06.2005 und 29.11.2005) die Wirtschaftslage Afghanistans (einem der ärmsten Länder der Welt) als "weiterhin desolat". Die humanitäre Situation stelle das Land mit Blick auf die etwa vier Millionen, meist aus Pakistan zurückgekehrten Flüchtlinge vor "große Herausforderungen". Die Wohnraumversorgung sei unzureichend, knapp, und die Preise in Kabul seien hoch. Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich "grundsätzlich verbessert", in anderen Gebieten sei sie weiter "nicht zufrieden stellend". Humanitäre Hilfe bleibe weiterhin "von Bedeutung; sie werde im Süden und Osten durch Sicherheitsprobleme erschwert. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend, selbst in Kabul. Soziale Sicherungssysteme gebe es nicht, Familien und Stämme übernähmen die soziale Absicherung. Rückkehrer "könnten auf Schwierigkeiten stoßen", wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Verhältnisse fehlten.

Schon diese eher zurückhaltende und allgemeine Beschreibung der Lage durch das Auswärtige Amt zeichnet ein düsteres Bild und lässt erahnen, mit welchen Existenzproblemen sich die Rückkehrer tatsächlich und konkret konfrontiert sehen. Was einen Rückkehrer im Einzelnen in Afghanistan erwartet, wird deutlich, wenn die weiter vorhandenen Erkenntnisquellen zu Rate gezogen werden (vgl. insbesondere den Bericht "Rückkehr nach Afghanistan" der Rechtsanwältin V. Arendt-Rojahn u. a. vom Juni 2005 und die Verlautbarungen des UNHCR).

Hieraus ergibt sich, dass etwa 70 % der Bevölkerung an Unterernährung leiden. Neben der Arbeitslosigkeit ist die Obdachlosigkeit das größte Problem für Rückkehrer. Das Land ist dem Zustrom der Rückkehrer nicht mehr gewachsen, die Rückkehrerproblematik überfordert Staat und Gesellschaft völlig, wobei das Maximum an Rückkehrern aus Pakistan und Iran 2005/2006 erwartet wird. Da die Rückkehr in die Herkunftsregion nur bedingt gelingt, sind die großen Städte enorm angewachsen, was die ohnehin kaum vorhandene Infrastruktur belastet und die Regierung vor schier unlösbare Probleme stellt. Auf dem Arbeitsmarkt stehen die Rückkehrer in Konkurrenz zur übrigen Bevölkerung, für die selbst schon keine Arbeit vorhanden ist. Regierungsvertreter und NGOs versuchen zwar zu helfen, aber das Ausmaß des Elends ist so gewaltig, dass die meisten ohne Hilfe auskommen müssen. Jeder Rückkehrer ohne große finanzielle Mittel stellt eine nicht verkraftbare Belastung dar. Viele Rückkehrer haben keine andere Wahl, als - soweit solche vorhanden sind - mit Verwandten oder Freunden in oft überfüllten Unterkünften zu leben. Hinzu kommt, dass die medizinische Versorgung völlig unzureichend ist.

Noch deutlicher zeigt der von den Klägern für die Begründung des Folgeantrages zitierte Sachverständige Dr. Danesch (Stellungnahmen vom 24.07.2004 an das OVG Bautzen, vom 25.01.2006 an das VG Hamburg und vom 04.12.2006 an den VGH Kassel) die tatsächlichen Verhältnisse auf, mit denen sich Asylbewerber nach einer Abschiebung konfrontiert sehen. Nach dessen auf einer Reise durch Afghanistan im Dezember 2005 gewonnenen Erfahrungen ist die Lage zurückkehrender Flüchtlinge so katastrophal, dass sie unmittelbar eine Existenzgefährdung für die Betroffenen darstellt.

Dies gilt besonders auch für Kabul. Nach Erhalt einer einmaligen Hilfe von 12 Dollar pro Person sind die Menschen auf sich gestellt und müssen selbst nach einer Unterkunft suchen. In den Zeltlagern für Flüchtlinge herrschen katastrophale Verhältnisse. Auch in Lagern, in denen die Menschen in Fabrikgebäuden untergebracht sind, herrschen unbeschreibliche Verhältnisse. Die Versorgung der Flüchtlinge durch die Hilfsorganisationen ist keineswegs gewährleistet, weil von der internationalen Hilfe praktisch nichts bei den bedürftigen Menschen ankommt. Die Frauen und Kinder gehen betteln. Tausende von Frauen prostituieren sich. Mit viel Glück können die Männer gelegentlich tageweise Arbeit in der Baubranche finden und dort 2 Dollar am Tag verdienen. Erschwinglicher Wohnraum außerhalb der Flüchtlingslager existiert für Rückkehrer nicht. Inzwischen ist die Versorgungslage der Flüchtlinge in der Hauptstadt so katastrophal, dass täglich Menschen verhungern, besonders Kinder. Hunderte sterben täglich, weil sie durch die mangelnde Infrastruktur und auf Grund der Armut nicht einmal in der Lage sind, in die Stadt zu gelangen oder überhaupt ein Krankenhaus zu erreichen. Die medizinische Versorgung ist so schlecht, dass eine Krankheit in den meisten Fällen den sicheren Tod bedeutet. In Kabul kommt auf mehrere Zehntausend Menschen ein Arzt. Eine systematische Gesundheitsversorgung existiert nicht. Viele Menschen haben überhaupt keinen Zugang zu medizinischer Versorgung.

Insgesamt sind die Verhältnisse so unzureichend, dass ein abgeschobener Asylbewerber im Regelfall unmittelbar in seiner Existenz gefährdet wäre. Hinzu kommt, dass die Flüchtlinge aus Europa mehrheitlich aus gebildeten Familien stammen. Oft flüchteten gerade bei den Intellektuellen oder politisch Oppositionellen ganze Familienclans, die heute über die ganze Welt verstreut leben und ihren ganzen Besitz losgeschlagen haben, um die Ausreise zu finanzieren. Sie stehen in Afghanistan vor dem Nichts und haben meist auch keine Familie, die sie aufnehmen könnte.

Bei sachgerechter Würdigung dieser Erkenntnisquellen muss zur Überzeugung des Gerichts zumindest für die Gruppe der langjährig in Europa ansässigen und nicht freiwillig zurückkehrenden afghanischen Flüchtlinge, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten oder Freunden in Afghanistan oder auf früheren Grundbesitz zurückgreifen können oder nicht über ausreichende Ersparnisse für ein Leben am Existenzminimum verfügen, befürchtet werden; dass sie bei einer Rückkehr "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert" sind. Denn diese Rückkehrer sind außer Stande, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen, und sie haben keine realistische Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Ein Unterkommen wäre allenfalls in den Zeltlagern denkbar, die aber bereits überfüllt sind und deren Verfestigung und Vergrößerung von den Hilfsorganisationen nicht gewünscht wird mit der Folge, dass diese keine weiteren Zelte zur Verfügung stellen. Die abgeschobenen Rückkehrer können auch nicht mit ausreichender humanitärer Hilfe rechnen. Solche Rückkehrer sind daher der ernstlichen Gefahr ausgesetzt, mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert zu sein (ebenso VG Karlsruhe, Urt. v. 09.11.2005 - A 10 K 12302/03 -, m. w. N.). Ebenso besteht wegen der fehlenden medizinischen Versorgung bei schweren Erkrankungen, die eine regelmäßige Behandlung und die Einnahme von Medikamenten erfordern, akute Lebensgefahr, wenn die Arztbesuche und die erforderlichen Medikamente nicht selbst finanziert werden können. Nach Auffassung des Gerichts wird diese Einschätzung auch nicht widerlegt durch die Stellungnahmen des vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Bandenburg angehörten sachverständigen Zeugen David (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Verhandlungsniederschrift vom 27.03.2006 wegen des Zeugen David). Denn seine Einlassungen, das System der vorübergehenden Aufnahme und anschließenden wirtschaftlichen und sozialen Reintegration von Rückkehrern aus Westeuropa habe bislang reibungslos und lückenlos funktioniert, die Lage in Afghanistan sei von einem Aufschwung gekennzeichnet, Rückkehrer würden kostenlose Krankenversorgung erhalten, durch das sog. RANA-Projekt sei eine Versorgung der Rückkehrer gewährleistet und in einem Übergangswohnheim stünden 96 Betten zur Verfügung (vgl. dazu auch Auswärtiges Amt, Auskunft vom 04.09.2006 zum RANA-Programm), werden durch die Aussage des Zeugen Dr. Danesch ebenfalls vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Verhandlungsniederschrift vom 05.05.2006 wegen des Zeugen Dr. Danesch) widerlegt. Angesichts der beschriebenen wirtschaftlichen Probleme Afghanistans sowie der auch vom Zeugen David zugestandenen Korruption ist es für das Gericht nicht nachvollziehbar, dass dieses RANA-Projekt mit seinem Budget von 4, 5 Millionen Euro und den beschriebenen Einrichtungen auf Dauer eine Versorgung der Rückkehrer sicherstellen kann. Bestätigt wird dies durch das neue Gutachten von Dr. Danesch vom 04.12.2006, in dem nochmals ausführlich und mit Fallbeispielen auf die katastrophale Lage der Bevölkerung und der Rückkehrer eingegangen wird. Zudem gilt das RANA-Programm nach diesem Gutachten überhaupt nicht für abgeschobene Asylbewerber.