VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 23.06.2006 - VG 36 X 393.97 - asyl.net: M9731
https://www.asyl.net/rsdb/M9731
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, Wehrdienst, Wehrdienstentziehung, Strafverfahren, Politmalus, Antragstellung als Asylgrund, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Dorfschützer, Weigerung, Fisleme, Strafnachrichtenaustausch, Misshandlungen, Folter, Sippenhaft, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Nachfluchtgründe, exilpolitische Betätigung, Demonstrationen, Mala Kurda e.V., Mitglieder, Besetzungsaktion, Auslandsvertretung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, als politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG anerkannt zu werden; er kann auch nicht die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG oder - hilfsweise - von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG verlangen (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Nach diesen Maßstäben ist der Kläger unverfolgt aus der Türkei ausgereist.

Der Kläger, der die Türkei im Alter von 13 Jahren verließ, kann auch nicht als Asylberechtigter anerkannt werden, weil er seinen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat.

Da der Kläger bisher nicht gemustert worden ist und seinen Militärdienst bislang nicht angetreten hat, ohne davon befreit oder zumindest vorübergehend zurückgestellt worden zu sein, muss er im Falle seiner Rückkehr in die Türkei daher damit rechnen, dass seine Militärdienstsituation im Rahmen der Einreisekontrolle überprüft und er daraufhin sofort der Militärdienstbehörde überstellt und zu seiner Einheit beordert wird (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 12. August 2003, S. 53). Zugleich mag ihm womöglich ein Strafverfahren wegen Wehrdienstentziehung drohen. Dies allein ist nach ständiger Rechtsprechung der Kammer und der obergerichtlichen Rechtsprechung als asylrechtlich unbeachtlich anzusehen, da die Heranziehung zum Wehrdienst und deren staatliche Sanktionen für sich genommen keine politische Verfolgung darstellt. Der Kläger muss auch während der Ableistung seines Wehrdienstes aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit keine ausgrenzende Behandlung im Hinblick auf asylerhebliche Merkmale befürchten.

Der Kläger muss bei der Einreise nicht mit asylerheblichen Übergriffen wegen der Asylantragstellung in Deutschland rechnen. Für zurückkehrende kurdische Asylbewerber stellt die Gefahr, an der Grenze oder auf dem Flughafen asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt zu sein, eine bloße theoretische Gefahr dar, sofern in ihrer Person keine Besonderheiten vorliegen (OVG Berlin, Urteil vom 14. Oktober 2003 - 6 B 7.03 - S. 33 des amtlichen Abdrucks). Auch die Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, führt nicht zu einer Gefährdung bei der Einreise.

Es kann nicht festgestellt werden, dass abgeschobene Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit regelmäßig, also auch beim Fehlen individueller Verdachtsmomente, damit rechnen müssen, bei der Einreise in die Türkei asylerheblichen Misshandlungen oder Folter ausgesetzt zu werden.

Dem Kläger droht in der Türkei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einbeziehung in die politische Verfolgung von Angehörigen, insbesondere seines Bruders ... (Sippenhaft). Das Gericht hält nicht mehr an seiner Rechtsprechung fest, dass eine allgemeine Gefährdung regelmäßig angenommen werden kann für nahe Familienangehörige von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen, wenn sie in der Türkei durch Haftbefehl gesucht werden oder aber wenn sie sich im Ausland exilpolitisch in einer Weise betätigt haben, die bei einer Gesamtwürdigung ein vergleichbares politisches Gewicht aufweist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. April 2005 - 8 A 273/04.A. -, juris, Rn. 438ff.). Das Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte, die früher traditionell in weitem Umfang eine Sippenhaft praktiziert haben, hat sich geändert: Obgleich die Vernehmungen von Angehörigen auch gegenwärtig noch mit Beschimpfungen und Schikanen wie etwa längeren Wartezeiten, bei denen dem Betroffenen keine Sitzgelegenheit zur Verfügung steht, verbunden sind, wird die Gefahr, dass physischer Druck und Folter angewendet werden, als gering eingeschätzt. Die Dauer der Vernehmungen beschränkt sich üblicherweise auf wenige Stunden. Auch mit Durchsuchungen von Wohnung und Arbeitsplatz muss weiterhin gerechnet werden, wobei die Bewohner mitunter herumgeschubst und beleidigt werden; Hausrat und Nahrungsvorräte werden aber - anders als früher - nur durcheinander gebracht, nicht vernichtet. Schließlich ist auch mit der gründlichen Durchsuchung von Gepäck und Personen zu rechnen (Kaya, Gutachten vom 25. Oktober 2004 an OVG Nordrhein-Westfalen und Gutachten vom 10. Dezember 2005 an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof; Taylan, Gutachten vom 26. Juni 2004 an VG Frankfurt/Oder). Derartige kurzfristige Maßnahmen mögen zwar in jedem Einzelfall für den Betroffenen sehr unangenehm sein; sie versetzen ihn jedoch nicht in die für die Gewährung von Asyl bzw. Abschiebungsschutz vorauszusetzende ausweglose Lage. Die Änderung der üblichen Vorgehensweise schließt nicht aus, dass es in einigen Fällen dennoch zu asylerheblichen Übergriffen kommen kann. Die Annahme, dass derartige Übergriffe weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, ist hingegen nicht mehr gerechtfertigt, weil es an einer hinreichenden Zahl von Referenzfällen aus jüngerer Zeit fehlt. Daher bedarf es, wenn ein Asylbewerber geltend macht, von Sippenhaft betroffen oder bedroht zu sein, einer einzelfallbezogenen Würdigung seines bisherigen Vorbringens zu der bereits erlittenen Sippenhaft bzw. zu den konkreten Umständen, aus denen er schließt, dass ihm ausnahmsweise - abweichend von der wie dargelegt geänderten Verfolgungspraxis - nach der Rückkehr in die Türkei dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Sippenhaft droht. Dies zugrunde gelegt, droht dem Kläger in der Türkei keine Sippenhaft.

Der Kläger kann sich nicht auf beachtliche Nachfluchtgründe berufen. Eine Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung bei einer Rückkehr in die Türkei kommt nur bei politisch exponierten Personen in Betracht (OVG Berlin, Urteil vom 25. September 2003 - OVG 6 B 8.03). Nur derjenige, der politische Ideen und Strategien entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus hinwirkt und damit Einfluss insbesondere auf seine hier lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der Sicht des türkischen Staates ein ernstzunehmender politischer Gegner, den es zu beobachten und gegebenenfalls zu bekämpfen gilt (Urteil vom 25. September 2003, a.a.O., amtlicher Abdruck, S. 14).

Eine Gefährdung wegen exilpolitischer Betätigung besteht auch nicht deshalb, weil der Kläger an den Demonstrationen vor dem Griechischen und Israelischen Generalkonsulat am 16. und 17. Februar 1999 teilgenommen hat. Zwar kann auch eine nach den oben dargelegten Maßstäben an sich gering profilierte exilpolitische Tätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit tragen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 64; OVG Beschluss vom 20. August 2004 - OVG 6 N 21.04 - S. 2). In diesem Zusammenhang ist einerseits zu berücksichtigen, dass auch eine Vielzahl von ihrem sachlichen Gehalt nach niedrig profilierten Aktivitäten einer exilpolitischen Tätigkeit nicht allein deshalb ein hinreichendes Gewicht verleiht, weil sie zum Gegenstand der Berichterstattung in den Medien gemacht worden ist (vgl. dazu VGH Mannheim, Urteil vom 27. Juli 2001 - A 12 S 228/99 -, zitiert nach juris). Insoweit können quantitative nicht in qualitative Gesichtspunkte umschlagen. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dass sich der Betreffende aus der Sicht des türkischen Staates durch Tätigkeiten exponiert, denen in anderem Zusammenhang womöglich eine nur untergeordnete Bedeutung zukäme, die aber für den türkischen Staat aufgrund besonderer Umstände von herausragender Bedeutung sind (VG Berlin, Urteil vom 17. Februar 2003 - VG 36 X 541.95, S. 14; ebenso zum letzteren Gesichtspunkt OVG Münster, Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, S. 63). Die spektakulären Besetzungen der Generalkonsulate Griechenlands und Israels im Februar 1999 durch Anhänger Abdullah Öcalans, über die in allen europäischen und türkischen Medien berichtet worden ist, stellen nach Auffassung des Gerichts ein derartiges Ereignis dar. Voraussetzung für die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit ist freilich auch in diesem Zusammenhang, dass der Asylsuchende für den türkischen Staat als Aktivist eindeutig identifizierbar hervorgetreten ist (vgl. VG Berlin, Urteil vom 27. Juni 2002 - VG 36 X 682.96 -, S. 11 f. [dort verneint]; Urteil vom 13. März 2003 - VG 36 X 303.98 -, S. 7 f. [dort bejaht]; Urteil vom 11. September 2003 - VG 36 X 416.96 -, S. 12 [dort verneint]). Dies kann hier nach den gesamten Umständen nicht angenommen werden: ...