OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18.10.2006 - 2 M 234/06 - asyl.net: M9886
https://www.asyl.net/rsdb/M9886
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Ermessensausweisung, geringfügiger Verstoß gegen Rechtsvorschriften, Verstoß gegen das Aufenthaltsgesetz, unerlaubter Aufenthalt, Ausreisefrist, Ermessen, nichteheliche Lebensgemeinschaft, Verlöbnis, Schutz von Ehe und Familie, Aufenthaltsdauer, rechtmäßiger Aufenthalt, Fortgeltungsfiktion, Generalprävention, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AufenthG § 55 Abs. 1; AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2; GG Art. 6; AufenthG § 81 Abs. 4
Auszüge:

Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 14.03.2006 wiederhergestellt. Nach der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung erweist sich die Verfügung als voraussichtlich rechtswidrig.

Nach § 55 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ist dies insbesondere dann der Fall, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat.

Der Antragsteller hat voraussichtlich den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfüllt, da er sich nach Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis entgegen § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ohne Aufenthaltstitel und trotz vollziehbarer Ausreisepflicht (§ 58 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) im Bundesgebiet aufgehalten hat und seine Abschiebung nicht ausgesetzt war. Eine Strafbarkeit nach dieser Norm besteht allerdings erst nach Ablauf einer gesetzten Ausreisefrist. Die Verlassenspflicht wird durch die Ausreisefrist in der Weise modifiziert, dass sich der Ausländer trotz vollziehbarer Ausreisepflicht noch bis zum Ablauf der Frist in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten darf (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 42 RdNr. 8; Hailbronner, Ausländerrecht, § 50 RdNr. 13; Westphal in: Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, § 42 RdNr. 76).

Allein diesen Verstoß hat die Antragsgegnerin zum Anlass genommen, um den Antragsteller auszuweisen. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig im Sinne von § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG (BVerwG, Urt. v. 24.09.1996 - BVerwG 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63 [66]). Insbesondere kann auch der strafbewehrte Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen einen solchen nicht geringfügigen Verstoß darstellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.07.1980 - BVerwG 1 C 45.77 -, BVerwGE 60, 284 [286]). Dies kann beispielsweise in den Fällen angenommen werden, in denen sich der Ausländer über einen längeren Zeitraum rechtswidrig im Bundesgebiet aufgehalten hat (vgl. VGH BW, Beschl. v. 14.11.1994 - 1 S 818/94 -, InfAuslR 1995, 197). Allerdings kann es auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig im Sinne dieser Bestimmungen zu bewerten ist (BVerwG, Urt. v. 24.09.1996, a. a. O.), und zwar auch dann, wenn keine Einstellung eines strafrechtlichen Verfahrens wegen Geringfügigkeit erfolgt ist (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - BVerwG 1 C 23.03 -, Juris).

In dem - der Antragsgegnerin bekannten - Beschluss vom 28.04.2005 - 2 M 22/05 - (... ./. Landeshauptstadt Magdeburg) hat der Senat entschieden, das Verbleiben eines Ausländers im Bundesgebiet trotz vollziehbarer Ausreisepflicht für die Dauer von 13 Tagen nach Ablauf der Ausreisefrist sei noch als geringfügig anzusehen. So liegt der Fall auch hier. Die dem Antragsteller gesetzte Ausreisefrist war am 01.03.2006 und damit erst 13 Tage vor Erlass der Ausweisungsverfügung vom 14.03.2006 abgelaufen.

Allerdings ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung; dies gilt auch im Falle einer Änderung der Sach- und Rechtslage während des Widerspruchsverfahrens (BVerwG, Urt. v. 03.06.1997 - BVerwG 1 C 23.96 -, NVwZ 1997, 1126). Steht - wie hier - die Widerspruchsentscheidung noch aus, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich (HessVGH, Beschl. v. 11.03.1992 - 12 TH 2805/91 - EZAR 032 Nr. 3; Urt. v. 10.08.1992 - 12 UE 2254/89 -, EZAR 032 Nr. 6; OVG NW, Urt. v. 10.12.1997 - 17 A 5677/95 -, zit. bei Juris; SchlHOVG, Beschl. v.09.02.1993 - 4 M 146/92 -, InfAuslR 1993, 128 [130 f.]; Funke-Kaiser in: GK-AuslR, II - § 45 RdNr. 828). Ob zu diesem Zeitpunkt die Geringfügigkeitsschwelle überschritten ist, kann dahinstehen. Die Ausweisung erweist sich jedenfalls als ermessensfehlerhaft, weil die Antragsgegnerin bei ihren Ermessenerwägungen von unzutreffenden rechtlichen Voraussetzungen ausgegangen ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 114 RdNr. 12).

Die Entscheidung über eine Ausweisung erfordert eine sachgerechte Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Ausreise des Ausländers mit den Interessen des Ausländers an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet (BVerwG, Urt. v. 24.09.1996 - 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63). Nach § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sind dabei die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schützwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Bei den "persönlichen Bindungen" im Sinne von § 55 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG dürfen auch solche Bindungen nicht vernachlässigt werden, die nicht unter verfassungsrechtlichem Schutz stehen. Insbesondere die nichteheliche Lebensgemeinschaft und das Verlöbnis sind in die Ermessenserwägungen einzubeziehen, auch wenn beide Bindungen nicht dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 GG) unterfallen und ihnen deshalb in der Regel geringeres Gewicht zukommt als dem Bestehen einer familiären oder lebenspartnerschaftlichen Gemeinschaft (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.10.1979 - 1 C 20.75 -, Buchholz 402.24 § 10 AuslG Nr. 66; GK-AuslR II - § 45 RdNrn. 481, 482; vgl. auch Nr. 55.3.1.2.5 der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum AufenthG).

Mit der nichtehelichen Lebensgemeinschaft des Antragstellers und der deutschen Staatsangehörigen ... hat sich die Antragsgegnerin jedoch nur unter dem in § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG genannten Gesichtspunkt (Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen oder Lebenspartner) beschäftigt und hierzu angegeben, der Antragsteller habe in Deutschland keine weiteren Familienangehörigen oder Lebenspartner. Diese Ausführungen lassen darauf schließen, dass die Antragsgegnerin das Bestehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zwar gesehen, aber bei der Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gründe letztlich als nicht abwägungsrelevant gewertet hat.

Auch die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet hat die Antragsgegnerin nicht zutreffend beurteilt. Sie ist der Auffassung, die Zeiten des Besitzes einer Fiktionsbescheinigung könnten nur dann als rechtmäßiger Aufenthalt gewertet werden, wenn im Anschluss daran die Aufenthaltserlaubnis verlängert werde. Nach § 81 Abs. 4 AufenthG gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend, wenn der Ausländer die Verlängerung seines Aufenthaltstitels oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels beantragt. Der Titel gilt dabei mit allen sich daran anschließenden Rechtswirkungen als fortbestehend (vgl. die Begründung zum Gesetzentwurf, BT-Drucks. 15/420, S. 96; Nr. 81.4.1 der vorläufigen Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum AufenthG). Schon unter Geltung des § 45 Abs. 2 Nr. 1 AuslG war anerkannt, dass der Aufenthalt auch dann rechtmäßig ist, wenn der Aufenthalt als erlaubt galt (vgl. GK-AuslR, II - § 45 RdNr. 477). Weshalb der Aufenthalt während der Dauer des Erlaubnisverlängerungsverfahrens nachträglich rechtswidrig werden soll, wenn die Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird, erschließt sich dem Senat nicht.

Ob auch die vom Verwaltungsgericht angenommen Ermessensfehler vorliegen, kann damit offen bleiben.

Bedenken hat der Senat im Übrigen auch, ob das von der Antragsgegnerin geltend gemachte besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Verfügung (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) vorliegt.

Die Antragsgegnerin hat in der Ausweisungsverfügung den Sofortvollzug allein mit generalpräventiven Erwägungen begründet. Nach herrschender Meinung kann sich das besondere Vollzugsinteresse zwar auch aus einer generalpräventiven Zweckrichtung der Ausweisungsverfügung ergeben (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 RdNr. 68; vgl. auch die Nachweise bei OVG Hamburg, Beschl. v. 13.01.1998 - OVG Bs VI 74/97 -, InfAuslR 1998, 222 [223], jew. m. w. Nachw.). Sie dürfte aber in der Regel nur bei Straftaten von erheblichem Gewicht in Betracht kommen (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AuslR II - § 45 RdNr. 784). In Anbetracht des geringen Gewichts des Verstoßes gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen erscheint der Sofortvollzug im konkreten Fall als unverhältnismäßig.