VerfGH Berlin

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Zitieren als:
VerfGH Berlin, Beschluss vom 17.10.2006 - 98/06, 98 A/06 - asyl.net: M9888
https://www.asyl.net/rsdb/M9888
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Assoziationsberechtigte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Wiederaufgreifen des Verfahrens, Rücknahme, Widerruf, Rechtsweggarantie, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Wiederholungsgefahr, Spezialprävention, Schutz von Ehe und Familie, Deutschverheiratung
Normen: VvB Art. 15 Abs. 4; AufenthG § 60a Abs. 2; VwVfG § 51; VwVfG § 48; VwVfG § 49; VvB Art. 12 Abs. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde hat keinen Erfolg.

a) Das aus der in Art. 15 Abs. 4 VvB enthaltenen Rechtsweggarantie folgende Recht des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz (vgl. Beschluss vom 17. Juni 1996 - VerfGH 40 A/96 - LVerfGE 4, 76 <78>, 31. Oktober 2002 - VerfGH 66/02, 66 A/02 - LVerfGE 13, 61 <69> und 31. Januar 2003 - VerfGH 34/00 - LVerfGE 14, 19 <23>) ist nicht verletzt.

1.) Das Gericht war im Hinblick auf Art. 15 Abs. 4 VvB nicht gehalten, die Abschiebung des Beschwerdeführers so lange als rechtlich unmöglich im Sinne des § 60a Abs. 2 AufenthG anzusehen, wie die Ausländerbehörde noch nicht über dessen Anträge auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 VwVfG bzw. Aufhebung der Ausweisungsverfügung gemäß §§ 48, 49 VwVfG entschieden hat. Zwar wird angenommen, dass bestandskräftig ausgewiesene assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige im Hinblick auf die geänderte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung der Ausländerbehörde jedenfalls über ein Wiederaufgreifen des Ausweisungsverfahrens außerhalb des Anwendungsbereichs des § 51 VwVfG (sog. Wiederaufgreifen im weiteren Sinne) haben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. April 2006 - 7 S 13.06 -; OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 305; OVG Lüneburg, AuAS 2006, 185; VGH Mannheim, Beschluss vom 9. November 2004 - 11 S 2771/03 -, juris und NVwZ-RR 2006, 147 [nur Leits.]; VGH Kassel, InfAuslR 2005, 451). Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers folgt hieraus aber nicht zugleich ein aus Art. 15 Abs. 4 VvB abgeleitetes subjektives Recht des Betroffenen auf Aussetzung des Vollzugs des in Rede stehenden Verwaltungsakts. Ebenso wenig wie die Garantie effektiven Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen im Verwaltungsprozess schlechthin gewährleistet, erfordert sie, dass ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen eines abgeschlossenen Verfahrens den Vollzug eines im Rahmen dieses Verfahrens ergangenen unanfechtbaren Verwaltungsakts in jedem Fall hindert.

(2.) Ob und inwieweit das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz es erfordert, die Abschiebung des Beschwerdeführers vorübergehend auszusetzen und ihm für diesen Zeitraum eine Duldung zu erteilen, richtet sich deshalb nach den zum Gewährleistungsgehalt von Art. 15 Abs. 4 VvB aufgezeigten Grundsätzen, also danach, ob das öffentliche Interesse an dem Vollzug der bestandskräftigen Ausweisungsentscheidung im jetzigen Zeitpunkt die Nachteile überwiegt, die der Rechtsschutzanspruch des Beschwerdeführers durch diesen Vollzug erleiden würde.

(aa) Die Prognose hinsichtlich der vom Beschwerdeführer auch gegenwärtig noch ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung entspricht den vom Bundesverwaltungsgericht formulierten Anforderungen an die Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei - ARB 1/80 - besitzen (vgl. BVerwG, InfAuslR 2005, 26 und InfAuslR 2006, 114), insbesondere beruht sie auf spezialpräventiven, gerade das persönliche Verhalten des Beschwerdeführers berücksichtigenden Gründen.

(bb) Das Oberverwaltungsgericht hat bei seiner Abwägung den dem Beschwerdeführer im Falle der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes und Durchsetzung der Ausreisepflicht drohenden, über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Verlust von Rechten mit irreparablen Folgen nicht außer Acht gelassen.

Unter dem Gesichtspunkt des effektiven Rechtsschutzes ist es dabei nicht zu beanstanden, dass sich das Gericht bei der Prüfung der Rechte des Beschwerdeführers, deren Durchsetzung infolge der Versagung einstweiligen Rechtsschutzes vereitelt werden könnte, auf die Feststellung beschränkt hat, dass die Ausweisungsverfügung vom 5. Juni 2002 - gemessen an den sich aus der aktuellen Rechtsprechung ergebenden Anforderungen - seinerzeit rechtmäßig hätte verfügt werden können (S. 15 f. des angegriffenen Beschlusses) und dass die mit einer Abschiebung für den Beschwerdeführer verbundenen Folgen dem Erlass einer Ausweisung aus heutiger Sicht nicht entgegenstehen (S. 10 - 13 des angegriffenen Beschlusses). Es entspricht der Rechtsprechung auch anderer Oberverwaltungsgerichte, dass die Änderung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Behörden nicht etwa dazu zwingt, auf der Grundlage der jetzigen Sach- und Rechtslage völlig neu über die Ausweisung des Betroffenen zu entscheiden (vgl. OVG Hamburg, InfAuslR 2006, 305; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. April 2006 - 7 S 13.06 -; OVG Lüneburg, AuAS 2006, 185).

b) Ohne Erfolg bleibt ferner die Rüge, die angefochtene Entscheidung verletze das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 VvB.

aa) Das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben aus Art. 12 Abs. 1 VvB gewährt ebenso wenig wie Art. 6 Abs. 1 GG unmittelbar einen Anspruch auf Aufenthalt. Die in Art. 12 Abs. 1 VvB in Übereinstimmung mit Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen, verpflichtet Behörden und Gerichte bei Entscheidungen über aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (Beschlüsse vom 8. März 2000, NVwZ-RR 2001, 60 <61> und 19. August 2005 - VerfGH 11/04 -; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 76, 1 <49 ff.>; 80, 81 <93>). Das gilt auch bei der Prüfung der rechtlichen Unmöglichkeit einer Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 AufenthG (zu § 55 Abs. 2 AuslG: Beschluss vom 8. März 2000, a. a. O.; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 106, 13 <19>). Wegen des besonderen Ranges, der den Grundrechtsgütern Ehe und Familie im Gefüge der Verfassung zukommt, sind im Bereich des Aufenthaltsrechts die Entscheidungen der Fachgerichte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht allein dahingehend zugänglich, ob sie offensichtlich unhaltbar sind, vielmehr bedarf es der Prüfung ihrer Vertretbarkeit (Beschluss vom 8. März 2000, a. a. O.; vgl. zum Bundesrecht etwa BVerfGE 76, 1 <51 f.>).

bb) Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die zwischenzeitlich geschlossene Ehe des Beschwerdeführers mit einer deutschen Staatsangehörigen stehe dessen Ausweisung und Abschiebung nicht entgegen, ist unter Berücksichtigung des vom Beschwerdeführer in der Beschwerdeinstanz gehaltenen Vortrags verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

(1.) Im Ausgangspunkt zutreffend ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Ehe mit einem deutschen Partner einen ausländischen Staatsangehörigen nicht schlechthin vor einer Abschiebung schützt, sondern eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der beabsichtigten Maßnahme und den Interessen der hiervon betroffenen Ehepartner erfordert (vgl. Beschluss vom 9. Mai 2003 - VerfGH 188/02, 188 A/02 -; vgl. zum Bundesrecht: BVerfGE 35, 382 <408>; 51, 386 <397>). Dabei ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn Verwaltungsgerichte wegen der von ihnen bejahten Gefahr, dass der Antragsteller erneut Straftaten von nicht unerheblichem Gewicht begehen werde, dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ein stärkeres Gewicht beimessen als dem Schutz von Ehe und Familie (vgl. BVerfG, VBlBW 1989, 130 <131>).