VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 12.02.2007 - 4 K 2312/05.KO - asyl.net: M9905
https://www.asyl.net/rsdb/M9905
Leitsatz:
Schlagwörter: Syrien, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, nichtstaatliche Akteure, Verfolgungsbegriff, Zwangsheirat, Ehrenmord, Familienehre, Kurden, Glaubwürdigkeit, gesteigertes Vorbringen, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Schutzbereitschaft, interne Fluchtalternative, alleinstehende Frauen, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Klage ist zulässig und begründet.

Denn die Klägerin hat Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).

1. Aufgrund der glaubhaften Angaben der Klägerin sowie der weiteren im Zuge der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Syrien am 28. November 2004 von geschlechtsspezifischer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure unmittelbar bedroht war.

Die Klägerin hat sowohl bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt als auch im gerichtlichen Verfahren eingehend, im Wesentlichen widerspruchsfrei und unter Angabe zahlreicher Details nachvollziehbar geschildert, dass ihre Familie sie zwingen wollte, gegen ihren Willen ihren Cousin zu heiraten, und dass sie sich dieser Verheiratung durch ihre - unter einem Vorwand möglich gewordene - erneute Ausreise nach Algerien entzogen hat.

Die Klägerin war im Ausreisezeitpunkt auch tatsächlich von einer "Tötung zur Wiederherstellung der Familienehre" unmittelbar bedroht. Sie hat plastisch geschildert, dass ihre Verheiratung mit ihrem Cousin für ihre Eltern unausweichlich war, weil sie schon in früher Kindheit diesem Mann versprochen worden war, und weil ihr Vater aus besonderen familiären Gründen in der Schuld ihres Onkels und beherrschenden Clansoberhaupts, dem Vater des ihr zugedachten Ehemannes, stand. Sie hat weiter überzeugend dargelegt, dass ihr Versuch, sich gegen diese Verheiratung aufzulehnen, trotz vorgebrachter verständlicher Gründe - der Berufung auf das erhebliche Bildungsgefälle zwischen ihr und ihrem Cousin - nicht akzeptiert wurde, sondern dazu führte, dass ihr Vater sie durch Prügel zur Räson zu bringen versuchte. Insofern bestand für die Klägerin auch die in der Auskunft des Deutschen Orient-Instituts angesprochene Möglichkeit einer Vermeidung der Zwangsehe durch ein familieninternes Arrangement nicht.

Vor allem aber steht mittlerweile fest, dass für die Klägerin ein Eingehen auf die Ehe mit dem Cousin schon deshalb nicht in Betracht kommen konnte, weil sie mittlerweile nicht mehr "unberührt" war. Dass die Klägerin dies erst in einem Gespräch mit ihrer Anwältin im Dezember 2006 nach langem Zögern eingeräumt hat, kann ihr nicht als unglaubhafte nachträgliche Steigerung ihres Vorbringens angelastet werden. Zum einen hatte die Klägerin bereits beim Bundesamt erwähnt, dass sie in Algerien zwei Jahre lang mit einem libanesischen Medizinstudenten befreundet gewesen war (Bl. 46 VA); auch hatte sie auf die Frage, inwieweit denn ihr Leben in ihrem Heimatland in Gefahr sei, geantwortet, man werde in Syrien über sie sagen, sie sei gewiss keine Jungfrau mehr und deshalb geflohen, was eine Schande für ihren Vater bedeute und dazu führen werde, dass man versuchen werde, sie zur Rettung der Familienehre, zu töten (vgl. Bl. 50 VA). Dies ist als Versuch der Klägerin zu werten, den wahren Sachverhalt wenigstens anzudeuten. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat im Übrigen nachvollziehbar geschildert, dass es für die Klägerin aufgrund ihrer soziokulturellen Prägung außerordentlich schwierig war, die Tatsache, dass sie sich auf eine außereheliche sexuelle Beziehung eingelassen hatte, eindeutig zu artikulieren, zumal im Beisein von Menschen aus ihrem Kulturkreis wie dem Dolmetscher beim Bundesamt oder ihren bei den Gesprächen mit der Anwältin als Dolmetscher fungierenden, in Deutschland lebenden Verwandten.

Damit befand sich die Klägerin im Ausreiszeitpunkt in einer besonders prekären Lage: Hätte sie sich auf die Ehe mit ihrem Cousin eingelassen, hätte dieser spätestens in der Hochzeitsnacht herausgefunden, dass er "betrogen" worden war - mit entsprechenden Konsequenzen. Hätte sie sich weiter der Eheschließung verweigert, wäre aber im Einflussbereich ihrer Familie in Syrien geblieben, so hätte die Gefahr bestanden, dass die Familie ihr unterstellt, dass die Ursache ihrer beharrlichen Verweigerungshaltung in einem "unsittlichen Verhalten" während des Studiums in Algerien liegt, oder man hätte sogar mit Gewalt versucht, dies herauszufinden. In beiden Fällen lagen die Voraussetzungen vor, unter denen auch das Deutsche Orient-Institut in seiner Auskunft eine konkrete Gefahr annimmt, von Familienangehörigen zur Wiederherstellung der Familienehre getötet zu werden.

Bei der der Klägerin danach im Ausreisezeitpunkt unmittelbar drohenden Tötung durch Familienangehörige zur Wiederherstellung der Familienehre handelte es sich um eine an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG.

Dass es sich um eine geschlechtsspezifische Verfolgung handelt, steht außer Frage, weil von solchen Verfolgungen in Syrien nach der Auskunftslage ausschließlich Frauen in Anknüpfung an einen frauenspezifischen Ehrbegriff betroffen sind (siehe dazu auch den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17.03.2006, Seite 23 f.).

Eine nähere Bestimmung des Begriffs der nichtstaatlichen Akteure enthalten weder das Aufenthaltsgesetz noch die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie), deren (teilweiser) Umsetzung in nationales Recht § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG dient. Aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG und auch aus der Gegenüberstellung mit Buchstabe a, wonach die Verfolgung von dem Staat ausgehen kann, folgt aber, dass der nichtstaatliche Akteur der Handelnde ist, der nicht über staatliche Strukturen verfügt. Aus der Gegenüberstellung von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG und Buchstabe b folgt des Weiteren, dass nichtstaatliche Akteure die Handelnden sind, die nicht Parteien oder Organisationen sind, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen. Allerdings sind Parteien oder Organisationen in Abgrenzung zu Buchstabe a gleichfalls Akteure ohne staatliche Strukturen, wenngleich sie feste Ordnungsstrukturen aufweisen oder gar staatsähnlich verfasst sein können. Anerkennt § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG darüber hinaus ausdrücklich eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, so zeigt dies, dass sonstige nichtstaatliche Akteure gemeint sind, die keinen Organisationsgrad aufweisen, wie er für Parteien oder Organisationen üblich ist, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen. Nichtstaatliche Akteure können daher sonstige Organisationen, Gruppen oder auch Einzelpersonen sein. Es ist danach für eine Bejahung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG nicht erforderlich, dass die Verfolgung von Gruppen ausgeht, die dem Staat oder den Parteien oder Organisationen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4b AufenthG ähnlich sind (So auch VG Köln, Urteil vom 01.07.2005 - 18 K 8609/03.A -, juris Rdnr. 34). Daraus folgt, dass die hier in Rede stehende Verfolgung der Klägerin durch (männliche) Angehörige ihres Familienclans, namentlich ihren Vater und ihre Brüder, eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4c i.V.m. Satz 3 AufenthG darstellt.

2. Die Klägerin konnte in dieser Situation keinen effektiven Schutz vor der ihr drohenden Verfolgung durch den - von den in § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG genannten sonstigen Akteuren hier allein in Betracht kommenden - syrischen Staat erwarten. Denn dieser ist jedenfalls nicht willens, Schutz vor Verfolgung durch Familienangehörige in den Fällen drohender Tötung von Frauen zur Wiederherstellung der Familienehre zu bieten. Das Gericht stützt diese Überzeugung auf die insoweit völlig übereinstimmenden Aussagen in den beiden eingeholten Auskünften. Das Deutsche Orient-Institut führt in seiner Auskunft vom 6. November 2006 überzeugend aus, in den Verhältnissen, in denen es zu derartigen Ehrenmorden kommen könne, könne eine Frau keinen effektiven Schutz seitens der syrischen Behörden erlangen, weil diese sich dafür nicht zuständig fühlten, sondern alles als "Familiensache" behandelt werde. Das Auswärtige Amt verneint in seiner Auskunft vom 21. August 2006 ebenfalls eine realistische Möglichkeit für die Betroffenen, von staatlicher Seite effektiven Schutz zu erhalten, und verweist auf den Umstand, dass in Syrien das Strafrecht weiterhin bei so genannten Ehrenmorden einen Strafmilderungsgrund vorsieht.

3. Für die Klägerin bestand im Zeitpunkt ihrer Ausreise aus Syrien auch keine innerstaatliche Fluchtalternative. Denn die Klägerin hätte als alleinstehende Frau unter den gegebenen Umständen keine realistische Chance gehabt, ihren Lebensunterhalt ohne familiäre Unterstützung dauerhaft zu sichern.

4. Ist die Klägerin somit im Zustand der Vorverfolgung durch nichtstaatliche Akteure aus Syrien ausgereist, so beurteilt sich für sie die Frage, ob sie bei Rückkehr nach Syrien vor erneuten Verfolgung sicher wäre, nach dem herabgestuften Maßstab. Danach kann einem Flüchtling, der bereits einmal verfolgt war, eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.

Dies kann hier nicht angenommen werden.