VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 30.03.2007 - 1 A 1259/05 - asyl.net: M9940
https://www.asyl.net/rsdb/M9940
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Situation bei Rückkehr, Glaubwürdigkeit, Folgeantrag, Wiederaufgreifen des Verfahrens, fachärztliche Stellungnahmen, Kurden, Newroz, Newroz-Massaker, Sirnak
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; VwVfG § 51 Abs. 5
Auszüge:

Mit der anhängig gebliebenen Klage, über die der Einzelrichter mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, auf Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hat der Kläger Erfolg.

Aufgrund einer wertenden Gesamtbetrachtung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.10.2000 - 2 BvR 1280/99 -, u.a. InfAuslR 2001 S. 89) des Inhalts der beigezogenen Vorgänge des Bundesamtes über die vier Asylverfahren des Klägers (und seiner Familie), des Vortrags der Beteiligten im Klageverfahren und der weiteren, mit Verfügungen vom 26.und 28.03.2007 den Beteiligten übersandten Unterlagen ist das erkennende Gericht davon überzeugt, dass bei dem Kläger ein auf erlittener Folter während der Inhaftierung in der Türkei nach der Abschiebung am 28.12.1998 beruhendes Trauma mit der Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung - PTBS - und der Gefahr einer asylerheblichen Retraumatisierung für den Fall einer erneuten Abschiebung in die Türkei besteht.

Das Gutachten erfüllt die an ein fachpsychiatrisches Gutachten im gerichtlichen Verfahren zu stellenden Anforderungen (vgl. dazu das Urteil der Kammer vom 14.12.2005 - 1 A 2441/05 - m.w.N. sowie die Abhandlung von Ebert und Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, S. 41 f). Denn es beruht auf einer ausführlichen, sorgfältigen Anamnese und letztlich auf einer kritischen Würdigung der gefundenen Ergebnisse. Insofern ist es unerheblich, dass Dr. med. ... die Angaben des Klägers über die Beteiligung des damaligen Bevollmächtigten bei dem zweiten, unter dem Alias-Namen ... am 07.10.1999 gestellten Asylfolgeantrag nicht hinterfragt, sondern offensichtlich ungeprüft übernommen hat (vgl. Bl. 7 und 36 des Gutachtens sowie den Hinweis zu 2. in der gerichtlichen Verfügung vom 15.03.2007).

Die Einwände des Bundesamtes in dem Bescheid vom 09.02.2005 gegen die Glaubwürdigkeit des Klägers, die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens und die darauf aufbauenden Feststellungen des Facharztes Dr. med. ... in dem Gutachten vom 18.01.2003 teilt das erkennende Gericht nicht:

Der Kläger erklärte bei der Anhörung durch das Bundesamt am 09.02.1994 (Bl. 24 ff der Beiakte D), im Zusammenhang mit dem Newroz-Fest 1992 sei es auch in Sirnak zu Schießereien zwischen der türkischen Armee und der PKK gekommen und sein Textilgeschäft davon betroffen worden. Nach der Zerstörung des Ladens sei er verhaftet, während der Haft mit Elektroschocks gefoltert und anschließend mit kaltem Wasser übergossen worden. Das Bundesamt bewertete diese Schilderung des Klägers in dem Bescheid vom 03.05.1994 lediglich als Misshandlungen, die für sich genommen ebenfalls zu keiner Anerkennung als Asylberechtigter führen könnten, unterließ es dabei jedoch, die Angaben des Klägers über die Schießereien in Sirnak im Zusammenhang mit dem Newroz-Fest 1992, seine Inhaftierung und die während der Haft erlittene Folter mit dem ihm zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln konkret abzugleichen. Denn wegen der als Newroz-Massaker 1992 bekannt gewordenen Übergriffe des türkischen Militärs u.a. in Cizre und Sirnak mit vielen Toten wird in der Klageschrift vom 23.06.1994 im Verfahren 1 A 5119/94 zutreffend ausgeführt, dass für Kurden aus der Provinz Sirnak ein Abschiebestopp bestehe und die Provinz eine der momentan bedrohtesten Provinzen und akutes Kampfgebiet zwischen dem türkischen Militär und der PKK sei (vgl. die den Beteiligten mit Verfügung vom 28.03.2007 übersandten Unterlagen: den Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 12.06.1992, Archiv der Gegenwart vom 30.03.1992, 36624, TÜRKEI, den Auszug aus der Abhandlung von Rechtsanwalt Schultz, Das "PKK-Verbot" und den Erlass des Nds. Innenministeriums vom 03.04.1992 über die Verlängerung des Abschiebestopps für Kurden aus der Türkei).

In dem Klageverfahren 1 A 5119/94 konnte das Vorbringen des Klägers gegenüber dem Bundesamt und dem erkennenden Gericht nicht nachgeprüft werden, weil die Klage in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - und des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - wegen Versäumung der Klagefrist durch Anwaltsverschulden am 18.10.1995 als unzulässig abgewiesen werden musste.

In Anbetracht dieser Entwicklung ist es für das erkennenden Gericht "typisch", dass der Kläger den Folgeantrag vom 23.04.1998 auf eine wahrscheinlich gefälschte Bescheinigung der Staatsanwaltschaft beim Staatssicherheitsgericht Diyarbakir gestützt und den zweiten Folgeantrag unter dem Alias-Namen ... gestellt hat (zu ähnlich "typischen" Abläufen vergleiche die in der mit Verfügung vom 26.03.2007 übersandten Erkenntnismittelliste aufgeführten Urteile der Kammer vom 14.10.2004 - 1 A 5487/02 -, vom 02.12.2004 - 1 A 2621/04 -, vom 21.01.2005 - 1 A 4447/03 - und vom 14.03.2005 - 1 A 800103 -). Ein derart "typischer" Ablauf von Asylverfahren eines Asylbewerbers bedeutet allerdings kein Indiz für oder gegen seine persönliche Glaubwürdigkeit und die Glaubhaftigkeit seines Vorbringens. Vielmehr muss sich das erkennende Gericht trotzdem jeweils von der persönlichen Glaubwürdigkeit eines Folgeantragstellers und der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens überzeugen (sie bejahend beispielsweise in den Urteilen vom 21.01.2005 - 1 A 4447/03 - und vom 14.03.2005 - 1 A 800/03 -, sie verneinend in den Urteilen vom 14.10.2004 - 1 A 5487/02 - und vom 02.12.2004 - 1 A 2621/04 -).

Für den Kläger hat Herr Dr. med. ... bei der notwendigen Gesamtwürdigung der vier Asylverfahren in dem Gutachten vom 18.01.2003 zutreffend festgestellt, dass die Angaben des Klägers, vor der Ausreise im Sommer 1992 und nach der Abschiebung am 28.12.1998 in der Türkei inhaftiert und während der Haft mit verschiedenen Methoden gefoltert worden zu sein, glaubhaft sind. Weiter teilt das erkennende Gericht seine Bewertung, der Kläger habe aus Verzweiflung darüber, im Asylerstverfahren ungerecht behandelt worden zu sein, weil die Behörden ihm nicht geglaubt und ihn trotz der erlittenen Folterungen mit der Folge erneuter Folterungen abgeschoben hätten, für den zweiten Asylfolgeantrag einen Alias-Namen verwendet, worüber er inzwischen tiefe Scham empfinde (vgl. die ergänzende Stellungnahme vom 21.07.2003, Bl. 67 der Beiakte A). Vor dem Hintergrund der innenpolitischen Situation in der Provinz Sirnak im Jahre 1992 (Stichwort "Newroz-Massaker") und den glaubhaften Angaben des Klägers bei der Anhörung durch das Bundesamt am 09.02.2004, er sei im Sommer 1992 während der einwöchigen Haft mit verschiedenen Methoden gefoltert worden, ist die Einschätzung von Dr. med. ... ebenfalls plausibel, der Kläger sei bereits 1992 traumatisiert und psychisch instabil nach Deutschland gekommen. Die Traumatisierung habe sich in den Folgejahren u.a. wegen der fehlenden Anerkennung seines Verfolgungsschicksals weiter verschlimmert und durch die erlittene Folter nach der Abschiebung in die Türkei am 28.12.1998 zu einer schweren zusätzlichen Traumatisierung geführt. Deshalb schließt sich das erkennende Gericht seiner Feststellung an, dass bei dem Kläger eine PTBS besteht, die bei einer erneuten Abschiebung in die Türkei seinen gegenwärtigen Krankheitszustand erheblich verschlimmern und zu einer permanenten Retraumatisierung führen würde.