VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 14.02.2007 - 9 A 69/06 MD - asyl.net: M9980
https://www.asyl.net/rsdb/M9980
Leitsatz:
Schlagwörter: Bosnien-Herzegowina, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Suizidgefahr, fachärztliche Stellungnahme, Sachverständige, allgemeine Gefahr, Retraumatisierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Nach § 60 Abs. 7 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG greift im Falle der Klägerin bereits deshalb nicht ein, weil sich die Annahme eines gruppeneinheitlichen Erscheinungsbildes angesichts des vielfältigen Symptombildes der posttraumatischen Belastungsstörung verbietet; denn es liegt in der Natur einer psychischen Erkrankung, die auf von vielen Menschen in gleicher oder ähnlicher Weise erlebten Ereignissen beruht, dass sie nicht allein durch diese Ereignisse entsteht, sondern vielmehr in der Individualität des Erlebenden ihre Ursache hat. Schon dies schließt es denkgesetzlich aus, für die Klägerin von einer "gruppenbezogenen Gefahr" auszugehen.

b) Die Klägerin leidet an einer PTBS (ICD-10: F43.1) und nicht, wie die Beklagte - wider besseren Wissens - behauptet (zuletzt Schriftsatz vom 30.08.2006), lediglich an psychischen Störungen. Dies geht unmissverständlich aus der Vielzahl der ärztlichen Atteste, die von unterschiedlichen Fachärzten für Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie etc. erstellt worden sind, hervor, deren Inhalt durch die Beweisaufnahme ihre Bestätigung gefunden hat. Insbesondere hat die Vernehmung der Sachverständigen ... ergeben, dass die Ermittlung der Befundtatsachen auf fachärztlichen Begutachtungen beruht, die zur Feststellung der Erkrankung geeignet sind. Die diagnostizierte PTBS begegnet begründeten Zweifeln des Gerichts nicht. Zwar dürfen Gerichte auch sachverständige Äußerungen nicht einfach für ihre Entscheidungen übernehmen, sondern müssen die Feststellungen und Schlussfolgerungen des Gutachtens im Rahmen ihrer tatrichterlichen Würdigung unter Berücksichtigung aller Umstände, der eigenen Sachkunde und der allgemeinen Lebenserfahrung selbstverantwortlich auf deren Schlüssigkeit überprüfen und nachvollziehen. Der diagnostizierte Gesundheitszustand der Klägerin berücksichtigt aber insbesondere den zur Feststellung einer PTBS anerkannten Diagnosestandard ICD-10 (vgl. Lösel/Bender, Qualitätsstandards psychologisch-psychiatrischer Begutachtung im Asylverfahren). Dies ist zwingend erforderlich. Denn bei einer PTBS handelt es sich um eine psychische Reaktion mit Krankheitswert, die von einem komplexen Krankheitsbild gekennzeichnet ist. Anders als im ein somatisch-medizinischen Bereich, wo äußerlich feststellbare objektive Befundtatsachen im Mittelpunkt stehen, geht es bei der PTBS um ein innerpsychisches Erlebnis, das sich einer Erhebung äußerlich-objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 258. Auflage). Ausgangspunkt jeder PTBS ist i.d.R. eine Extrembelastung, ein andauerndes Ausgesetztsein einer lebensbedrohlichen Situation. Diese bestand bei der Klägerin in ihren Erlebnissen während des Aufenthaltes in Sarajewo, die unzweifelhaft von einer Dauer und Intensität waren, um eine PTBS auszulösen. Bis zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Bosnien-Herzegowina im Jahre 1997 waren die Symptome jedoch nach Aussagen der Sachverständigen deshalb nicht akut, weil insofern relativ stabilisierende Faktoren im Umfeld der Klägerin gewirkt haben. Diese entfielen danach erstmals wieder, verbunden mit dem Wiedererleben von Bedrohung und Angst. Nachvollziehbar hat die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung dargestellt, welche Umstände Einfluss auf das Wiedererleben der - ggf. schon im Verdrängungsprozess befindlichen und teilweise bereits mehr als 10 Jahre zurückliegenden - Ereignisse haben.

Eine diagnostizierte PTBS ist dann i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erheblich, wenn sich der Gesundheitszustand im Falle der Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich im Heimatland verschlechtern würde. Die Gefahr ist konkret, wenn der Ausländer im Heimatland keine andere Möglichkeit zur Behandlung hat, als das (unzureichende) staatliche Gesundheitssystem und dort eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringen Versorgungsstandards generell nicht verfügbar oder nicht ausreichend verfügbar ist (vgl. BVerwG, U. v. 29.10.2002, 1 C 1/02, AuAS 2003, 106). Eine wesentliche Verschlimmerung der bei der Klägerin bestehenden PTBS im Sinne einer den Grad von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erreichenden Gesundheitsstörung ist jedoch nur dann anzunehmen, wenn diese im Abschiebezielstaat mangels fehlender natürlicher, zeitabhängiger Eigenheilkraft und unzureichender Behandlungsmöglichkeit zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden und/oder existenzbedrohenden Zuständen im Sinne einer gravierenden Beeinträchtigung des allgemeinen Wohlbefindens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit führen wird. Unerheblich ist dabei, ob die Behandlungsmöglichkeiten im Abschiebezielstaat dem medizinischen Fortschritt und Standard in der Versorgung in Deutschland entsprechen. Ein Ausländer muss sich vielmehr auf den Standard der Gesundheitsversorgung im Heimatland verweisen lassen, auch wenn dieser dem entsprechenden Niveau in Deutschland nicht entspricht, solange dadurch nicht die vorstehend beschriebenen Rechtsgutbeeinträchtigungen zu befürchten sind (OVG Münster, B. v. 14.06.2005, 11 A 4518/02.A; B. v. 06.09.2004. 18 B 1661/03, InfAusR 2005, 3). In Anbetracht des bei der Klägerin diagnostizierten Krankheitsbildes der PTBS, der damit gutachterlich eingeschätzten Behandlungsformen, den in Bosnien-Herzegowina bestehenden Bedingungen für Rückkehrer und dass eine sinnvolle Therapie von traumatisierten Personen dort kaum möglich ist (AA, Lagebericht vom 07.08.2006; Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sarajewo vom 11.10.2005; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bosnien-Herzegowina - Aktuelle Situation, insbesondere die Situation verletzlicher Gruppen), geht das Gericht von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben der Klägerin aus. Die bei der Klägerin diagnostizierte Form der PTBS ist nach Aussagen der Sachverständigen jetzt - und dies ohne die im Heimatland zusätzlich auf ihn zukommenden Einflussfaktoren - als äußerst massiv einzuschätzen. In Anbetracht der Ursachen für die diagnostizierte PTBS hat die Sachverständige auch den Einfluss von (natürlichen) Eigenheilkräften als wirkungslos beurteilt; die Gefahr des Suizids wurde von ihr als real eingeschätzt.