OVG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 25.02.1999 - OVG Bf V 15/95 - asyl.net: R3178
https://www.asyl.net/rsdb/R3178
Leitsatz:

Kurdischen Volkszugehörigen, die sich in der Türkei und im Bundesgebiet politisch nicht engagiert haben, steht im westlichen Teil der Türkei weiterhin eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).

Die Entziehung von der Wehrpflicht wie ihre Erfüllung begründen für kurdische Volkszugehörige in der Türkei keine asylrelevante Gefahr einer politischen Verfolgung (Bestätigung der Senatsrechtsprechung). (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Elazig, PKK, Sympathisanten, Verdacht der Unterstützung, Haft, Folter, Hausdurchsuchung, Sippenhaft, Glaubwürdigkeit, Nachfluchtgründe, Wehrdienstentziehung, Strafverfolgung, Politmalus, Folter, Schikanen im Wehrdienst, Fronteinsatz, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Westtürkei, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Erreichbarkeit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; TürkMilitärStGB Art. 63
Auszüge:

Kurdischen Volkszugehörigen, die sich in der Türkei und im Bundesgebiet politisch nicht engagiert haben, steht im westlichen Teil der Türkei weiterhin eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung (Bestätigung der Senatsrechtsprechung).

Die Entziehung von der Wehrpflicht wie ihre Erfüllung begründen für kurdische Volkszugehörige in der Türkei keine asylrelevante Gefahr einer politischen Verfolgung (Bestätigung der Senatsrechtsprechung). (amtliche Leitsätze)

Der Kläger muss auch nicht befürchten, im Falle einer Rückkehr in die Türkei deswegen asylrelevanten Maßnahmen ausgesetzt zu sein, weil er sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland dem türkischen Wehrdienst entzogen hat. Da er sein Haimatland schon als (...)-jähriger verlassen hat, hat er sich zu diesem Zeitpunkt nicht wegen Wehrdienstentziehung strafbar gemacht. Nach dem türkischen Militärdienstgesetz (Gesetz Nr. 1111 vom 21.6.1927) beginnt die Wehrpflicht am 1. Januar des Jahres, in dem in das 20. Lebensjahr eingetreten wird. Allerdings ist der Kläger während seines Aufenthaltes im Bundesgebiet nunmehr militärdienstpflichtig geworden.

Dem Kläger droht wegen seiner Wehrdienstentziehung mit hinreichender Sicherheit keine asylrelevante Verfolgung. Dabei kann dahinstehen, ob sich der Kläger möglicherweise schon deshalb nicht wegen Wehrdienstentziehung strafbar gemacht hat oder nicht bestraft wird, weil er durch die Verbüßung seiner Strafhaft daran gehindert war bzw. ist, zur Musterung und Ableistung seines Militärdienstes in die Türkei zurückzukehren; das Auswärtige Amt verweist darauf, dass bei Nichtantritt zur Musterung bzw. zum Militärdienst wegen Auslandsaufenthaltes bei einer Rückkehr in die Türkei keineswegs immer eine Bestrafung erfolgt, sondern die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden (AA an VG Stuttgart vom 28.09.1998). An einer asylrelevanten Verfolgung fehlt es jedenfalls auch dann, wenn sich der Kläger strafbar gemacht hat und tatsächlich bestraft wird, weil er sich - wie aufgrund des Asylverfahrens zu unterstellen ist - nicht bei den türkischen Militärbehörden gemeldet hat, obwohl er seit dem (...) militärdienstpflichtig ist. Nach dem türkischen Militärstrafrecht (Gesetz Nr. 1632 vom 22.5.1930, in der Fassung der Änderung v. 16.2.1994) werden Wehrdienstpflichtige, die sich dem Wehrdienst entziehen, mit Freiheitsstrafen bestraft. Art. 63 dieses Gesetzes hat nach den Auskünften des Auswärtigen Amtes an das VG Ansbach vom 22. April 1997 und an das VG Frankfurt vom 7. Mai 1997 folgenden Wortlaut:...

Die Vorschrift kann auch zur Anwendung kommen, wenn sich der Betroffene nur wegen seines Auslandsaufenthaltes der Wehrpflicht entzogen hat (AA an VG Ansbach vom 22.4.1997 sowie an VG Frankfurt vom 7.5.1997; Kaya an VG Stuttgart vom 17.3.1997). Diese Bestrafung stellt allerdings keine politische Verfolgung dar, da sie keinen politischen Charakter hat.

Das türkische Militärstrafrecht knüpft nach dem Wortlaut der Vorschriften nicht strafschärfend an bestimmte asylerhebliche Persönlichkeitsmerkmale an. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, die über die Strafandrohung, die mit der tatbestandlich verwirklichten Wehrdienstentziehung verknüpft ist, hinausgeht, oder andere asylerhebliche Maßnahmen hat der Kläger ebenfalls mit hinreichender Sicherheit nicht zu erwarten.

Der Kläger hat nicht deshalb, weil er sich seiner Wehrpflicht durch Auslandsaufenthalt entzogen hat, mit Folter oder anderen asylrelevanten Maßnahmen zu rechnen, die über eine strafrechtliche Verfolgung hinausgehen. Zwar geht Denise Graf in ihrem Gutachten vom 8. Mai 1995 davon aus, dass zurückkehrende Jugendliche, die ihren Wehrdienst wegen eines Auslandsaufenthaltes nicht geleistet haben, inhaftiert werden und der Foltergefahr ausgesetzt sind. Beispielfälle werden hierfür allerdings nicht angegeben. Demgegenüber schließt das Auswärtige Amt (AA an VG Ansbach vom 22..1997) aus, dass ein Rückkehrer bei der Einreise von Sicherheitsbeamten mißhandelt wird, nur weil er Militärdienstflüchtling ist. Dem Auswärtigen Amt sind keine Fälle bekannt geworden, in denen ein desertierter Militärangehöriger nach seiner Festnahme gefoltert wurde (AA an VG Köln vom 15.12.1995). In den gutachtlichen Äußerungen zur Verhaftung von Rückkehrern sowie den vom Kläger eingereichten Unterlagen ist in den Fällen der Festnahme von Wehrdienstverweigerern und Deserteuren lediglich in einem Fall davon die Rede, dass der Betroffene nach der Festnahme in erheblichem Maße mißhandelt worden ist (Fall Düzenli, Anlagen 17 und 18 sowie Bericht von A. Dietert-Scheuer vom Oktober 1998, S. 11 f., Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 14.12.1998), wobei es jedoch zu den Mißhandlungen insbesondere bei der Antiterroreinheit der Polizei gekommen sein soll, da gegen den Betroffenen auch wegen separatistischer Betätigung ermittelt wurde. Kaya geht in seinem Gutachten an VG Saarlouis vom 19. August 1996 zwar - ohne Nennung konkreter Beispielfälle - davon aus, dass während einer Vernehmung eines Militärdienstflüchtigen psychischer und physischer Druck ausgeübt wird. Er hält das Ausmaß und den Druck aber nicht für vergleichbar mit demjenigen, der gegenüber Personen angewendet wird, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten strafrechtlich verfolgt werden. In seinem neueren Gutachten an das VG Stuttgart vom 17. März 1997 betont Kaya, dass eine Mißhandlung eines Rückkehrers nur deshalb, weil er militärdienstflüchtig ist, nicht zu befürchten ist. Allerdings dürfte er auch hiernach zu zuständigen Behörden überstellt werden, seinen Militärdienst ableisten müssen und ein Strafverfahren nach den Vorschriften des Art. 63 Militärstrafgesetzbuch, § 83 des Gesetzes Nr. 1111 vor dem Militärgericht zu erwarten haben (Kaya an VG Berlin vom 28.5.1997). Rumpf nennt in seinem Gutachten an das OVG Mecklenburg-Vorpommern vom 20. März 1997 eine größere Anzahl von Entscheidungen türkischer Militärgerichte zu Art. 63 Militärstrafgesetzbuch, in denen ausschließlich Geldstrafen (umgewandelte geringe Freiheitsstrafen) verhängt wurden, die sich regelmäßig am Mindeststrafrahmen orientiert haben. Bis zum Jahr 1994 wurde die Musterungsflucht sogar stets nur mit einer Geldstrafe geahndet ( Kaya an VG Saarlouis vom 19.8.1996; ebenso Denise Graf vom 8.5.1995). Taylan hat in seiner Vernehmung durch das VG Gießen am 15. Mai 1997 ausgesagt, dass ihm kein Fall bekannt sei, in dem "eine Person, die in Deutschland den Militärdienst hat verstreichen lassen, bei der Rückkehr in den Knast gekommen wäre".

Auch Wehrpflichtigen, die aus dem Südosten der Türkei stammen, droht nach einer Militärdienstflucht keine Folter (AA an VG Würzburg vom 26.7.1994, an VG Ansbach vom 22.4.1997 und an VG Frankfurt/Oder vom 7.5.1997). Ebenso erhöht sich die Strafe wegen der Wehrdienstentziehung auch nicht, wenn es sich um einen Wehrpflichtigen kurdischer Volkszugehörigkeit handelt (AA an VG Neustadt/Weinstraße vom 30.4.1996 und vom 22.11.1996).

Der Kläger ist auch als kurdischer Volkszugehöriger während seines abzuleistenden Militärdienstes vor asylrelevanten Verfolgungsmaßnahmen hinreichend sicher.

Kurdische Wehrdienstleistende werden auch nicht gezielt im Kampfgebiet im Südosten der Türkei eingesetzt und dort als "Kanonenfutter" verwendet.