VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19.05.1999 - A 6 S 1589/98 - asyl.net: R3436
https://www.asyl.net/rsdb/R3436
Leitsatz:

1. Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Zulassungsbegründungsfrist ist zu gewähren, wenn die Zulassungsbegründung per Fax - trotz mehrfacher Sendeversuche - beim Verwaltungsgericht am letzten Tag der Frist wegen einer technischen Störung des dortigen Faxgeräts nicht empfangen werden kann.

2. § 53 Abs. 4 AuslG mit dem Verweis auf die EMRK gewährt Abschiebungsschutz grundsätzlich nur bei Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK einschließlich der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Spezialfälle. Eingriffe in den Schutzbereich anderer Rechte der EMRK, insbesondere in Art. 9 Abs. 1 EMRK, können Abschiebungshindernisse nur dann begründen, wenn wegen ihrer Schwere zugleich der Tatbestand des Art. 3 EMRK erfüllt ist.

3. Eingriffe in die Religionsfreiheit im Zielstaat der Abschiebung können dann unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK sein, wenn sie den Betroffenen in seinem zum Kern der Menschenwürde gehördenden "religiösen Existenzminimum" (vgl. dazu BVerfGE 76, 143, 156 ff.; BVerwGE 87, 52 ff.) verletzen (im Ergebnis wie OVG Lüneburg, NVwZ-Beilage 1998, 65 f.; Hess. VGH, AuAS 1998, 226 ff. ; OVG Weimar, NVwZ-Beilage 1999, 19 ff.; OVG Koblenz, NVwZ-Beilage 1997, 79f.).(amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: D (A), Verfahrensrecht, Berufungszulassungsantrag, grundsätzliche Bedeutung, Divergenzrüge, Darlegungserfordernis, Fristen, Fristversäumnis, Telefax, technische Störung, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Abschiebungshindernis, Menschenrechtswidrige Behandlung, Religionsfreiheit, Religiöses Existenzminimum, Pakistan, Ahmadiyya, Strafverfolgung, EGMR, Rechtsprechung, Auslegung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 2; AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4; AuslG § 53 Abs. 4 ; VwGO § 60 Abs. 1
Auszüge:

1. Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Zulassungsbegründungsfrist ist zu gewähren, wenn die Zulassungsbegründung per Fax - trotz mehrfacher Sendeversuche - beim Verwaltungsgericht am letzten Tag der Frist wegen einer technischen Störung des dortigen Faxgeräts nicht empfangen werden kann.

2. § 53 Abs. 4 AuslG mit dem Verweis auf die EMRK gewährt Abschiebungsschutz grundsätzlich nur bei Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK einschließlich der in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Spezialfälle. Eingriffe in den Schutzbereich anderer Rechte der EMRK, insbesondere in Art. 9 Abs. 1 EMRK, können Abschiebungshindernisse nur dann begründen, wenn wegen ihrer Schwere zugleich der Tatbestand des Art. 3 EMRK erfüllt ist.

3. Eingriffe in die Religionsfreiheit im Zielstaat der Abschiebung können dann unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK sein, wenn sie den Betroffenen in seinem zum Kern der Menschenwürde gehördenden "religiösen Existenzminimum" (vgl. dazu BVerfGE 76, 143, 156 ff.; BVerwGE 87, 52 ff.) verletzen (im Ergebnis wie OVG Lüneburg, NVwZ-Beilage 1998, 65 f.; Hess. VGH, AuAS 1998, 226 ff. ; OVG Weimar, NVwZ-Beilage 1999, 19 ff.; OVG Koblenz, NVwZ-Beilage 1997, 79f.).(amtliche Leitsätze)

Allerdings sollen nach Auffassung einiger Obergerichte prinzipiell alle Schutzgarantien der EMRK, namentlich auch Art. 9 EMRK, bei besonders intensiver und nachhaltiger Verletzung unmittelbar geeignet sein, zielstaatsbezogenen Abschiebungsschutz zu begründen. Sowohl die Entstehungsgeschichte des § 53 als auch die Rechtsprechung des EGMR sprächen gegen eine nur exklusive Berücksichtigung des Art. 3 EMRK. Art. 3 EMRK gebe jedoch generalklauselartig den Maßstab für das erforderliche Verletzungsgewicht bei anderen Rechtsgütern vor (vgl. dazu insbes. OVG Lüneburg, Beschluss vom 6.4.1998, NVwZ-Beil. 1998, 65, 67 ff.; Hess. VGH, Beschluss vom 19.5.1998 - 10 UE 1974/97.A -, AuAS 1998, 226). Für Art. 9 EMRK bedeute dies, dass Abschiebungsschutz (auch bei fehlender Rechtfertigung nach Art. 9 Abs. 2 EMRK) nur bei einer deutlichen Unterschreitung des weiten Schutzniveaus des Art. 9 Abs. 1 EMRK in Betracht komme, die nach Art und Gewicht mit den für Abschiebungsschutz nach Art. 3 EMRK erforderlichen Belastungen vergleichbar sein müsse. Als Richtschnur könne dabei auf die vom Bundesverfassungsgericht zur religiösen Verfolgung i.S.d. Art. 16 a Abs. 1 GG entwickelte Grenze des "religiösen Existenzminimums" zurückgegriffen werden (vgl. am anschlaulichsten OVG Lüneburg, a.a.O.).

Dieser Auffassung kann sich der Senat nicht anschließen.

Der Tatbestand des Art. 3 EMRK enthält "konzentrische Rechtsbegriffe" (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.4.1997, a.a.O., m.w.N.). Zwischen den Merkmalen Folter, (unmenschliche oder erniedrigende) Strafe und (unmenschliche oder erniedrigende) Behandlung besteht ein Abstufungsverhältnis nach der Schwere der zugefügten Menschenrechtsverletzungen (so etwa BVerwG, a.a.O., u.a. auf Frowein/Peukert, EMRK, 2. Aufl. 1996, Art. 3 RdNr. 5 und 7). Die Folter stellt sich dabei als besonders gravierende und wegen ihrer - auch rechtlichen - Bedeutung hervorzuhebende Erscheinungsform menschenunwürdigen Verhaltens dar. Es folgen die Fälle unmenschlicher oder erniedigender Strafe. Ihnen schließt sich der weite Rechtsbegriff der (jeder anderen Art der) "unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung" an, der Auffangfunktion hat. Er ist zwar konkretisierungsbedürftig, läßt aber auch ausreichenden Spielraum für die Bewertung und Gewichtung der Einzelfälle. Diese Flexibilität ist angesichts der real vorkommenden Vielfalt von Verletzungen der Menschenwürde dringend erforderlich. Die in Art. 15 Abs. 2 EMRK aufgeführten sonstigen "kriegs- und notstandsfesten" Rechte, insbesondere das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 EMRK) und das Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft (Art. 4 Abs. 1 EMRK), stellen sich ihrerseits als besonders gravierende und damit herausgehobene Sonderfälle unmenschlicher Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Dies rechtfertigt es, bei Verstößen gegen diese Rechtsgarantien ebenfalls Abschiebungsschutz über § 53 Abs. 4 zu gewähren. Strukturell ist demnach zwischen der Gruppe der - im Grundsatz den Kern der Menschenwürde nachzeichnenden - Rechte aus Art. 15 Abs. 2 EMRK einerseits und den übrigen Rechten der EMRK andererseits zu unterscheiden (so zutreffend auch Hess. VGH, Beschluß vom 19.5.1998, a.a.O.). Nur gegen erstere will die EMRK auch in Drittstaaten schützen. Auf letztere kann sich ein Betroffener nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar, im Rahmen des Tatbestands des Art. 3 EMRK, berufen (so auch VG Köln, Urteil vom 2.9.1997, a.a.O.; ähnlich OVG Koblenz, Beschluß vom 23.5.1997, a.a.O.).

Zur Auslegung des Schlüsselbegriffs der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ist auf die umfangreiche Rechtsprechung der EMRK-Organe zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Art. 3 EMRK setzt danach voraus, daß die drohende "Behandlung" quantitativ einen bestimmten Schweregrad und qualitativ ein Element der Menschenwürdeverletzung aufweist. Dies gilt für alle Abstufungen der Behandlungen (vgl. Hailbronner, AuslR, § 53 RdNr. 40). Die Beurteilung des jeweils erforderlichen Intensitätsgrades ist, nicht abstrakt und absolut, sondern nur im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände möglich (etwa: Dauer der Maßnahme, Folgen beim Opfer, Befindlichkeit des Opfers etc.; vgl. Hailbronner, a.a.O., RdNrn. 40/42 a; GK-AuslR, a.a.O., § 53 RdNrn. 181/188). Dabei kommt auch der mit der Maßnahme verbundenen Absicht durch den Verursacher ("Tendenz") sowie der Wirkung der Maßnahme auf das Opfer und dessen Umgebung erhebliche Bedeutung zu (vgl. Hailbronner, a.a.O., RdNr. 41). Das Spektrum der von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erfaßten Rechtsgüter läßt sich abstrakt ebenfalls nicht umschreiben. Es beschränkt sich jedenfalls nicht notwendigerweise auf Eingriffe in Leben, Gesundheit, Freiheit, körperliche oder psychische Integrität, wenngleich diese Güter regelmäßig im Vordergrund stehen dürften. Bei entsprechender Schwere und Tendenz kommen auch (finale oder begleitende) Eingriffe in andere Rechtsgüter in Betracht. Als solche hat die Rechtsprechung insbesondere die Freiheit der Willensentschließung, schweren Gewissenszwang sowie unmenschliche Strafvollstreckung mit schwersten Streßsituationen ("Todeszellensyndrom") angesehen (vgl. EGMR, NJW 1990, 2183 ff. <Soering>). Auch gravierende Verletzungen der in Art. 4 ff. EMRK normierten Rechtsgarantien können sich im Einzelfall als unmenschliche Behandlung nach Art. 3 EMRK darstellen, sofern sie im Schutzbereich die Menschenwürde konkretisieren und - bejahendenfalls - im unverzichtbaren Kern der Menschenwürde betroffen sind (vgl. GK-AuslR, a.a.O., § 53 RdNrn. 186 f.; insofern zutreffend auch OVG Lüneburg, Beschluß) vom 6.4.1998, a.a.O.). Die Beschränkung der EMRK auf Abschiebungsschutz gegen drohende Verletzungen des Art. 3 EMRK (und der in Art. 15 Abs. 2 EMRK geregelten Spezialfälle) deckt sich auch mit den Vorstellungen des Gesetzgebers bei Erlaß des AuslG 1990.(wird ausgeführt)

Die Rechtsprechung der Organe der EMRK bestätigt die hier vertretene strenge Auslegung (wird ausgeführt).

Bezogen auf Art. 9 EMRK folgt aus alledem, daß Eingriffe in die Religionsfreiheit nicht schon für sich genommen, sondern erst dann abschiebungserheblich sind, wenn sie sich zugleich als unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK in der oben dargelegten Auslegung darstellen. Insofern - aber nur im Rahmen der Auslegung des Art. 3 EMRK - hält auch der Senat (mit den übrigen Obergerichten) einen Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zur religiösen Verfolgung nach Art. 16 a Abs. 1 GG für sachgerecht (vgl. insbes. BVerfG, Beschluß vom 1.7.1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BVerfGE 76, 143, 156 ff.; BVerwG, Urteil vom 30.10.1990 - 9 C 60.89 -, BVerwGE 87, 52 ff.). Eine Verknüpfung oder Gleichschaltung der Schutzbereiche des § 53 Abs. 4 und des Art. 16 a GG ist damit nicht verbunden. Entscheidend ist allein, ob und unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit so schwer und intensiv wiegen, daß sie zugleich auch die Menschenwürde verletzen. Davon ist nur dann auszugehen, wenn Maßnahmen darauf gerichtet sind, Angehörige einer religiösen Gruppe physisch zu vernichten, mit vergleichbaren schweren Sanktionen zu bedrohen oder ihrer religiösen Identität völlig zu berauben, wobei letzteres bei einem mit Androhung schwerer Strafen verbundenen Verbot der Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich der Fall sein kann. Diese private Religionsausübung, wie etwa der häusliche Gottesdienst, der nachbarlich kommunikative religiöse Bereich oder das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit gehören nach der genannten Rechtsprechung zum "religiösen Existenzminimum" eines Menschen (Beschluß vom 1.7.1987, a.a.O., S. 158 f.). Sie kann sich damit als Ausprägung des unantastbaren Kerns der Menschenwürde darstellen, den auch Art. 3 EMRK schützt (Beschluß vom 1.7.1987, a.a.O., S. 158 f.). Der Weg, über den die oben 4.1 zitierte Rechtsprechung anderer Obergerichte insoweit zum gleichen Ergebnis kommt, befriedigt dogmatisch nicht. Kennzeichnend für diese Rechtsprechung (vgl. insbesondere OVG Lüneburg, a.a.O., ähnlich OVG Weimar, a.a.O. sowie GK-AuslR, § 53 RdNrn. 179, 219 - 220.3) ist eine - vermeidbare - zweistufige Prüfung. In einem ersten Schritt wird der Verantwortungsbereich der EMRK-Staaten für Verstöße gegen die Religionsfreiheit in Drittländern prinzipiell auf alle Garantieen des Art. 9 Abs.1 EMRK bezogen und damit erkennbar zu weit gefaßt. Zur Vermeidung falscher Ergebnisse muß deshalb in einem zweiten Schritt die Bedeutung des Schutzbereichs des Art. 9 EMRK wieder stark relativiert werden, indem dieser auf das Schutzniveau des Art. 3 EMRK zurückgeführt wird. Diese Auslegungsmethode ist unnötig kompliziert und birgt - bei anderen Rechten als Art. 9 EMRK außer dem Risiko einer Überdehnung des Schutzzwecks der EMRK die Gefahr begrifflicher Unschärfen und damit von Rechtsunsicherheit.