VGH Hessen

Merkliste
Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 31.08.1999 - 10 UE 864/98.A - asyl.net: R4367
https://www.asyl.net/rsdb/R4367
Leitsatz:

1. Auch unter Berücksichtigung der innenpolitisch gesellschaftlichen Entwickung Pakistans seit der Regierungsübernahme Mian Nawaz Sharifs im Februar 1997 und der Verabschiedung des Anti-Terror-Gesetzes im August 1997 hat sich die Gefährdungslage für Mitglieder der Ahmadiyya-Bewegung nicht so verschlechtert, daß jedes einfache Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe orthodoxer Mitbürger befürchten müßte (im Anschluß an die Senatsentscheidung vom 5. Dezember 1994 - 10 UE 77/94 -).

2. Der Geltungsbereich der gegen die Ahmadiyya-Bewegung gerichteten Strafvorschriften der sec. 298 B, 298 C und 295 C PPC erfaßt zwar nicht nur die öffentliche, sondern auch die Religionsausübung der Ahmadis im privaten nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich; bei ihrer praktischen Anwendung ist jedoch nach wie vor ein generelles staatliches Vollzugsdefizit feststellbar, daß sich naturgemäß besonders im religiösen Binnenbereich auswirkt und das dazu führt, daß für einen nicht vorverfolgten gläubigen Ahmadi von einer asylrelevanten Zwangslage nicht ausgegangen werden kann.

3. Aufgrund dieses generellen Vollzugsdefizits besteht selbst unter Berücksichtigung der auch die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis betreffenden Strafverfahren keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für einen asylerheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit eines praktizierenden Ahmadis durch staatliche Strafverfolgungsmaßnahmen. Ebenso läßt sich im Wege der Prognose nicht feststellen, daß die sich im Gesetzgebungsverfahren befindliche Einführung der Scharia in die pakistanische Verfassung negative Auswirkungen auf die Ahmadiyya-Bewegung haben wird.

4. Lageberichte und amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes können als selbständige Beweismittel ohne förmliches Beweisverfahren in Asylverfahren im Wege des Freibeweises oder im Falle der Beiziehung aus einem anderen Verfahren als Urkunden verwendet werden. Dabei ist es unerheblich, ob bei der Abfassung der Auskünfte oder Lageberichte Bedienstete des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die im Wege der Abordnung an den Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beschäftigt sind, mitgewirkt haben, da die Auskünfte und Lageberichte stets anhand der übrigen Erkenntnisquellen zu überprüfen und zu gewichten sind. Entsprechendes gilt für die Einbeziehung von Auskünften und Informationen anderer Stellen und Organisationen.

5. Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK kommt nur in Betracht, wenn im Nichtsignatarstaat, in den abgeschoben werden soll, das religiöse Existenzminimum nicht so gewährleistet ist, wie es in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 16 a GG seine Ausformung gefunden hat (wie schon Senatsbeschluß vom 19. Mai 1998 - 10 UE 1974/97.A -, ESVGH 48, 263). (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Religiös motivierte Verfolgung, Gruppenverfolgung, Strafverfolgung, Mittelbare Verfolgung, Verfolgungsprogramm, Verfolgung durch Dritte, Bedrohung, Zurechenbarkeit, Schutzbereitschaft, Anti-Terrorismus-Gesetz, Scharia, Religiöses Existenzminimum, Situation bei Rückkehr, Einreise, Haft, Erpressung, Abschiebungshindernis, Religion, EMRK, Europäische Menschenrechtskonvention,
Normen: PPC Art. 298 B; PPC Art. 298 C; PPC Art. 295 C; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53 Abs. 4
Auszüge:

1. Auch unter Berücksichtigung der innenpolitisch gesellschaftlichen Entwickung Pakistans seit der Regierungsübernahme Mian Nawaz Sharifs im Februar 1997 und der Verabschiedung des Anti-Terror-Gesetzes im August 1997 hat sich die Gefährdungslage für Mitglieder der Ahmadiyya-Bewegung nicht so verschlechtert, daß jedes einfache Mitglied dieser Glaubensgemeinschaft mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe orthodoxer Mitbürger befürchten müßte (im Anschluß an die Senatsentscheidung vom 5. Dezember 1994 - 10 UE 77/94 -).

2. Der Geltungsbereich der gegen die Ahmadiyya-Bewegung gerichteten Strafvorschriften der sec. 298 B, 298 C und 295 C PPC erfaßt zwar nicht nur die öffentliche, sondern auch die Religionsausübung der Ahmadis im privaten nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich; bei ihrer praktischen Anwendung ist jedoch nach wie vor ein generelles staatliches Vollzugsdefizit feststellbar, daß sich naturgemäß besonders im religiösen Binnenbereich auswirkt und das dazu führt, daß für einen nicht vorverfolgten gläubigen Ahmadi von einer asylrelevanten Zwangslage nicht ausgegangen werden kann.

3. Aufgrund dieses generellen Vollzugsdefizits besteht selbst unter Berücksichtigung der auch die öffentliche Glaubensausübung von Ahmadis betreffenden Strafverfahren keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für einen asylerheblichen Eingriff in die persönliche Freiheit eines praktizierenden Ahmadis durch staatliche Strafverfolgungsmaßnahmen. Ebenso läßt sich im Wege der Prognose nicht feststellen, daß die sich im Gesetzgebungsverfahren befindliche Einführung der Scharia in die pakistanische Verfassung negative Auswirkungen auf die Ahmadiyya-Bewegung haben wird.

4. Lageberichte und amtliche Auskünfte des Auswärtigen Amtes können als selbständige Beweismittel ohne förmliches Beweisverfahren in Asylverfahren im Wege des Freibeweises oder im Falle der Beiziehung aus einem anderen Verfahren als Urkunden verwendet werden. Dabei ist es unerheblich, ob bei der Abfassung der Auskünfte oder Lageberichte Bedienstete des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, die im Wege der Abordnung an den Vertretungen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland beschäftigt sind, mitgewirkt haben, da die Auskünfte und Lageberichte stets anhand der übrigen Erkenntnisquellen zu überprüfen und zu gewichten sind. Entsprechendes gilt für die Einbeziehung von Auskünften und Informationen anderer Stellen und Organisationen.

5. Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK kommt nur in Betracht, wenn im Nichtsignatarstaat, in den abgeschoben werden soll, das religiöse Existenzminimum nicht so gewährleistet ist, wie es in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 16 a GG seine Ausformung gefunden hat (wie schon Senatsbeschluß vom 19. Mai 1998 - 10 UE 1974/97.A -, ESVGH 48, 263). (amtliche Leitsätze)