BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 27.07.1999 - 2 BvR 898/99 - asyl.net: R4737
https://www.asyl.net/rsdb/R4737
Leitsatz:

Verletzung des Freiheitsgrundrechts durch Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft unter Verkennung des Beschleunigungsgebotes und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Schlagwörter: Marokko, Auslieferungsverfahren, Auslieferungshaft, Haftdauer, Zusicherung der Einhaltung der Spezialität, Todesstrafe, Nichtverhängen, Nichtvollstreckung, Folter, Verhältnismäßigkeit, Beschleunigungsgebot
Normen: GG Art. 1 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2
Auszüge:

Die angegriffenen Beschlüsse des Oberlandesgerichts Bamberg vom 29. April 1999 und vom 28. Juni 1999 verletzen den Beschwerdeführer, soweit sie die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft betreffen. Hingegen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung des Beschwerdeführers nach Marokko von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden; insoweit wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Marokko für zulässig zu erklären, begegnet keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.

Das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Gefahr von Folter und unmenschlicher Haft, insbesondere wegen des Tatvorwurfs (u.a. Polizistenmord) ist nicht in der gebotenen Weise substantiiert dargelegt. Der Beschwerdeführer hat es versäumt, innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die von ihm zur Begründung seiner Verfassungsrügen in Bezug genommenen Schriftstücke vorzulegen.

Darüber hinaus vermag die - möglicherweise - bestehende Unsicherheit, ob die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Handlung nach Art. 392 des marokkanischen Strafgesetzbuches mit der Todesstrafe bedroht ist, eine Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend zu begründen. Das Oberlandesgericht hat in seiner Entscheidung festgestellt, daß Marokko jedenfalls ausweislich der vorgelegten Verbalnote vom 8. Dezember 1998 sowohl eine Verurteilung zum Tode als auch eine Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen habe, so daß bereits einfachrechtlich § 8 IRG der Zulässigkeit der Auslieferung nichts entgegenstehe. Die Einschätzungen des Oberlandesgerichts hinsichtlich der Verläßlichkeit der Zusagen Marokkos und zu der Frage einer möglicherweise drohenden Folter beruhen im wesentlichen auf Lageberichten und Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Inwieweit das Oberlandesgericht bei seiner Würdigung spezifisches Verfassungsrecht verletzt haben soll, ist weder stubstantiiert dargelegt noch ersichtlich.

Soweit der Beschwerdeführer in seinen Schriftsätzen vom 2. Juli und vom 6. Juli 1999 auf die Stellungnahme von amnesty international an das Verwaltungsgericht Ansbach verweist, in der der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, in Marokko gebe es keine Folter, mit deutlichen Worten widersprochen wird, kann dieser Vortrag aus dem Gesichtspunkt der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) keine Berücksichtigung finden, da hierüber zunächst das Fachgericht zu befinden hat. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit, diesen neuen Sachvortrag zunächst dem Fachgericht im Rahmen eines Antrags auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung gemäß § 33 IRG zu unterbreiten, und hat diese inzwischen nach eigenen Angaben auch wahrgenommen.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit das Oberlandesgericht in den angegriffenen Beschlüssen die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet hat.

Die im vorliegenden Verfahren weit über die Mindestdauer des Verfahrens hinausgehenden erheblichen Verzögerungen sind nicht auf besondere, das Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe zurückzuführen. In der zögerlichen Behandlung der Angelegenheit durch Marokko und der Nichterfüllung der Auflagen seitens des Auswärtigen Amtes liegt ein Verstoß gegen das von Verfassungs wegen bestehende Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung.

Grundsätzlich waren die Ermittlungen und Klarstellungen, die von seiten der Staatsanwaltschaft bzw. des Oberlandesgerichts angestrengt wurden, durch die gesetzlichen Voraussetzungen des Auslieferungsverfahrens, wie sie insbesondere in §§ 8 und 11 IRG niedergelegt sind, veranlaßt. Auch stellte der Verdacht, daß dem Beschwerdeführer in Marokko möglicherweise Folter und die Todesstrafe drohte, einen hinreichenden Grund für intensive Ermittlungen dar.

Die verbrauchte Zeit ist aber nicht auf die erforderlichen intensiven Ermittlungen zurückzuführen, sondern auf die zögerliche Haltung Marokkos, die fehlende Auflagenerfüllung durch die Bundesregierung und die großzügige Handhabung durch das Oberlandesgericht. Der Beschwerdeführer selbst hat keinen Anlaß für eine überlange Verfahrensdauer geboten.

Die eingetretenen Verzögerungen haben auch die Schwelle der Verhältnismäßigkeit überschritten.

Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Auslieferungshaft geben die gesetzlichen Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen keine absolute Grenze vor. Demnach muß auch eine Dauer von über 14 Monaten bis zur Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts und von über 17 Monaten bis zum heutigen Datum für sich genommen noch kein zwingender Anlaß sein, um die Unverhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung anzunehmen.

Unter Berücksichtigung des Umstandes jedoch, daß die unabdingbare Mindestdauer in dem vorliegenden Verfahren auf etwa sechs Monate zu begrenzen gewesen wäre, ist die Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer anzunehmen.