OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.11.1999 - 9 L 2663/98 - asyl.net: R5364
https://www.asyl.net/rsdb/R5364
Leitsatz:

Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG aufgrund drohender politischer Verfolgung für exponierte kurdische Oppositionelle bei Rückkehr in den Irak.

(Leitsatz der Reaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Union der Frauen Kurdistans, KDP, Familienangehörige, Ehemann, Haft, Verschwindenlassen, Latente Gefährdungslage, Interne Fluchtalternative, Nordirak, Verfolgungssicherheit, Sippenhaft
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Die Beigeladenen haben einen Anspruch auf die Feststellung, daß die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Der Beigeladenen zu 1) stand vor ihrer Ausreise aus dem Irak politische Verfolgung unmittelbar bevor. Der Senat ist davon überzeugt, daß sie wegen ihrer Mitgliedschaft in der Union der Frauen Kurdistans, ihres öffentlichen Auftretens bei Veranstaltungen der KDP und des Zusammentreffens mit führenden Persönlichkeiten dieser kurdischen Partei sowie ihrer Kontakte mit deutschen Politikern in Kurdistan in ihrem Heimatsort (...) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung durch den irakischen Staat bedroht war. Sie hat durch die von ihr eingereichten Fotos und Bestätigungen glaubhaft gemacht, daß sie in hervorgehobener Position in der kurdischen Frauenorganisation mitgearbeitet und dadurch zahlreiche Kontakte zu Persönlichkeiten geknüpft hat, die das irakische Regime als politische Gegner betrachtet.

Dem Senat erscheint es glaubhaft, daß die Verhaftung und - danach - das spurlose Verschwinden ihres Ehemannes dem irakischen Staat anzulasten ist. Denn die Beigeladene zu 1) und deren Ehemann sind durch ihre Zusammenarbeit mit führenden Vertretern der KDP auch selbst deutlich als Gegner des irakischen Regimes hervorgetreten. Aus diesem Grunde stand auch der Beigeladenen zu 1) Verhaftung und weitere staatliche Verfolgung wegen ihres Engagements für die Belange der kurdischen Bevölkerungsgruppe unmittelbar bevor.

Die Beigeladene zu 1) könnte sich im Falle ihrer Rückkehr in den Irak der drohenden Verfolgung auch nicht dadurch entziehen, daß sie, statt nach (...) zurückzukehren, Wohnsitz in den autonomen Kurdenprovinzen nimmt. Zwar dürfte sie aufgrund ihrer früheren Beziehungen dort eine Existenzmöglichkeit haben, doch wäre sie auch im Nordirak nicht vor Verfolgung sicher. Denn in den autonomen Kurdenprovinzen waren und sind nach den zur Verfügung stehenden Informationen Agenten des irakischen Geheimdienstes tätig, die dort auch Maßnahmen gegen bestimmte Personen ergreifen, auf die das Augenmerk des irakischen Regimes gefallen ist. Nach den vorhandenen Berichten und Auskünften halten sich Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste auch nach Einrichtung der UN-Schutzzone fortwährend in den autonomen Kurdengebieten auf. Sie verüben dort Anschläge wie Hinrichtungen, Vergiftungen, oder andere Formen der Tötung gegen mutmaßliche Oppositionelle und gegen Personen, die in negativer Hinsicht in das Blickfeld des irakischen Geheimdienstes gelangt sind, oder lassen diese verschwinden.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist die Tätigkeit des irakischen Geheimdienstes in den Kurdengebieten bezogen auf die gesamte Bevölkerung zwar keine bedeutende, allgemein drohende Gefahr. Nach Einschätzung des Deutschen Orient-Instituts sind nur exponierte Vertreter der kurdischen Gruppen, höherrangige Funktionäre und/oder Militärs sowie örtliche kurdische Mitarbeiter der westlichen Hilfsorganisationen und der UNO besonders gefährdet. Auch das Auswärtige Amt geht davon aus, daß im Nordost-Irak vor allem Oppositionelle sowie einheimische Mitarbeiter von ausländischen Nichtregierungsorganisationen gefährdet sind. Ein Tätigwerden des irakischen Geheimdienstes ist gegenüber solchen Personen ernsthaft zu erwarten, die sich in besonderer Weise als Oppositionelle exponiert haben bzw. dafür gehalten werden und die deswegen in das Blickfeld des Regimes geraten sind. Die Beigeladene zu 1) ist diesem Personenkreis aus den bereits dargelegten Gründen zuzuordnen.

Eine beachtlich wahrscheinliche Gefahr politischer Verfolgung im Falle ihrer Rückkehr nach Faidah oder in die autonomen Kurdengebiete durch den irakischen Staat bzw. dessen Geheimdienst besteht auch für die Beigeladenen zu 2) und zu 3) als Kinder der Beigeladenen zu 1).

Allerdings erlauben die dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel nicht die Einschätzung, daß im Irak generell Sippenhaft angewendet wird. Das Auswärtige Amt (Auskunft vom 28.10.1997 an VG Stade) weist diesbezüglich darauf hin, daß durch die regelmäßigen Berichte des VN-Menschenrechts-Berichterstatters (z.B. Bericht vom 15.10.1996) zahlreiche Fälle der Anwendung von Sippenhaft belegt sind, obwohl die irakische Verfassung garantiere, daß "jede Strafe persönlich ist". Gleichwohl werden häufig Familienangehörige von flüchtigen "Straftätern" als Geiseln in Haft genommen. Familienangehörige von gefaßten oder ins Ausland geflohenen (z.T. nur mutmaßlichen) Regimegegnern werden teilweise benachteiligt, wobei sich die irakischen Behörden dabei auf "Schuld durch Assoziation" berufen. Auch amnesty international liegen zahlreiche Berichte vor, denen zufolge Sippenhaft im Irak als Instrument der Verfolgung und Einschüchterung von Regimegegnern angewendet wird. So werden teilweise weibliche Familienangehörige zusammen mit ihren Kindern an Stelle von gesuchten und flüchtigen Personen durch die irakischen Behörden in Geiselhaft genommen und Angehörige von Gefangenen wegen ihrer familiären Beziehungen verhaftet. Familienangehörige von vermeintlichen Oppositionellen werden mitunter auch Opfer von "Verschwindenlassen" (Auskunft vom 17.11.1997 an VG Bayreuth). Vor diesem Hintergrund hat der Senat keine Zweifel, daß sich das irakische Regime angesichts der hervorgehobenen oppositionellen Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) nicht scheuen würde, auch deren heute (...)-jährigen Sohn, den Beigeladenen zu 2), und deren heute (...) Jahre alte Tochter, die Beigeladene zu 3), zu verfolgen, sollten diese in ihre Heimat zurückkehren.