VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.05.2000 - 11 S 1963/99 - asyl.net: R7382
https://www.asyl.net/rsdb/R7382
Leitsatz:

Die Pflicht der mit dem Vollzug der Abschiebung betrauten Behörde, einer bei dem Ausländer bestehenden Suizidgefahr durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung angemessen zu begegnen, erstreckt sich nicht auf Vorkehrungen, die auf eine dauernde ärztliche Versorgung im Zielstaat der Abschiebung gerichtet sind. (amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Türken, Abgelehnte Asylbewerber, Duldung, Suizidgefahr, Abschiebungshindernis, Rechtliche Unmöglichkeit, Humanitäre Gründe, Glaubwürdigkeit, Fachärztliches Gutachten, Situation bei Rückkehr, Medizinische Versorgung, Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Prüfungskompetenz, Bundesamt, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: VwGO § 123; AuslG § 55 Abs. 2; AuslG § 55 Abs. 3; AsylVfG § 42 S. 1
Auszüge:

Der Senat kann offen lassen, ob die Antragsteller glaubhaft gemacht haben, dass beim Antragsteller zu 1 eine so beträchtliche Suizidgefahr vorliegt, dass ernstlich befürchtet werden muss, diese werde sich - ohne hinreichende Vorkehrungen - im Zuge der Abschiebung verwirklichen.

Der vorliegende Fall gibt dem Senat gleichwohl Anlass, auf folgendes hinzuweisen:

Die Annahme eines entsprechenden Suizidrisikos ist jedenfalls nicht schon allein dann gerechtfertigt, wenn der Ausländer - wie etwa der Antragsteller zu 1 bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 24. Juli 1990 - äußert, er werde sich im Falle einer Abschiebung töten; wegen einer solchen Äußerung, deren Ernstlichkeit nicht durch weitere Umstände belegt wird, muss die Ausländerbehörde auch nicht etwa vor einer Abschiebung eine amtsärztliche Untersuchung veranlassen. Von daher gesehen haben sich für die Asyl- und Ausländerbehörden seit der Einreise des Antragstellers zu 1 in das Bundesgebiet im Jahr (...) keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass bei ihm eine Suizidgefahr vorliegen könnte. Eine beachtliche Suizidgefahr lässt sich wohl auch nicht stets schon dann annehmen, wenn ein Ausländer vor der Einreise in das Bundesgebiet etwa Folter erlitten hat und deshalb an posttraumatischen Belastungsstörungen leidet, die bei der Ankündigung einer Abschiebung zu einer weiteren Verschlechterung des psychischen Zustands ( Retraumatisierung ) führen können. Dem Senat liegen keine sachverständigen Äußerungen vor, die besagen, dass in solchen oder in vergleichbaren anderen existenziellen persönlichen Krisen, die von der Furcht geprägt sind, ein erlittenes schlimmes Schicksal erneut zu erfahren, nach wissenschaftlicher Erkenntnis bei jedem Betroffenen ohne weiteres von einer konkreten Suizidgefährdung ausgegangen werden muss.

Auch die ärztliche Stellungnahme des (...) vom (...) zum Fall des Antragstellers zu 1 besagt insoweit lediglich, dass eine solche Retraumatisierung eine akute, schwer beherrschbare Krisensituation auslösen kann, wobei sich suizidale Impulse verstärken können, und dass diese Gefahr im Zusammenhang mit dem ausgesprochen fragilen Zustand auch beim Antragsteller zu 1 nicht auszuschließen sei.

Ob eine beachtliche Suizidgefahr gegeben ist, bedarf vielmehr auch unter solchen Umständen nur gegebenfalls weitergehender Aufklärung, etwa im Wege einer fachärztlichen Begutachtung, und sodann einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ( vgl. OVG Mecklenburg- Vorpommern, Beschl. v. 28. 1. 1998, InfAuslR 1998, 343 345>). Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, dass eingeholte oder vorgelegte fachärztliche Stellungnahmen wesentlich auf den Angaben und Einschätzungen des Betroffenen beruhen. Sofern sich diese im Asylverfahren als nicht zutreffend erwiesen haben, kann die Möglichkeit eines Suizids in einem anderen Licht erscheinen (vgl. BVerfG, Bechl. v. 23.3.1995, InfAuslR 1995, 246 251>). So liegt der Fall hier.

Was die Frage des Vorhandenseins ausreichender Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei für das bescheinigte depressive Beschwerdebild einschließlich einer Suizidgefahr angeht, ist der Antragsgegner gemäß § 42 Satz 1 AsylVfG an die Entscheidung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtllinge im Asylverfahren gebunden, dass - zielstaatsbezogene - Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht vorliegen. Dies gilt unabhängig davon, ob der Antragsteller zu 1 ein solches Abschiebungshindernis im Asylverfahren geltend gemacht hat. Insoweit liegt auch nicht etwa ein Fall vor, bei dem die befürchteten belastenden Auswirkungen allein durch die Abschiebung als solche eintreten wie durch jedes sonstige Verlassen des Bundesgebiets auch. Vielmehr steht insofern ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis in Frage, welches ein erfolglos gebliebener Asylbewerber ausschließlich gegenüber dem Bundesamt geltend machen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 7.9. 1999, NVwZ 2000, 204, Urt. v. 21. 9. 1999, NVwZ 2000, 206, und Urt. v. 15. 10. 1999 - 9 C 7.99).