OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.06.2000 - 1 A 1462/96.A - asyl.net: R8526
https://www.asyl.net/rsdb/R8526
Leitsatz:

1. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Klage auf Verpflichtung zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG entfällt nicht dadurch, daß der Kläger im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ist.

2. Eine allgemeine Gefahr iSv § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG liegt nur dann vor, wenn jedem Angehörigen der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit iSv § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG droht.

3. Die Frage, ob ein Ausländer bei seiner Rückkehr nach Angola aufgrund der dortigen allgemeinen Situation einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben iSv § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ausgesetzt sein wird, kann nicht generell bejaht werden. Vielmehr bedarf es einer vertieften Prüfung der jeweiligen besonderen Umstände des Einzelfalles, bei der insbesondere das jeweilige Alter des Ausländers, dessen allgemeine Konstitution und dessen Gesundheitszustand, die verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zu in Angola bereits lebenden Personen, die Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten sowie das Vorhandensein besonderer Qualifikationen zu berücksichtigen sind.

4. Die Überlebensmöglichkeiten von Kindern ohne familiären Rückhalt in Angola sind zwar nach der allgemeinen Erkenntnislage bereits an sich als bedenklich anzusehen und erfordern ein hohes Maß an Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit sowie das Erlernen und Entwickeln von Überlebensstrategien. Das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben iSv

§ 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ist jedoch entscheidend von den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles abhängig.

5. Der Umstand, in der Vergangenheit in untergeordneter Weise mit der UNITA zusammengearbeitet zu haben, vermag ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG nicht zu begründen.

6. Es besteht kein Anhalt dafür, daß jedem Angehörigen der Gruppe der Bakongo (und damit auch der Mukongo) allein wegen der Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe Beeinträchtigungen in Angola drohen. (amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Angola, Bakongo, Mukongo, UNITA, Abschiebungshindernis, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Existenzminimum, Medizinische Versorgung, Kinder, Minderjährige, Soziale Bindungen, Verfahrensrecht, Befristete Aufenthaltserlaubnis, Rechtsschutzinteresse, Bindungswirkung
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; AsylVfG § 42 S. 1
Auszüge:

1. Das erforderliche Rechtsschutzinteresse für eine Klage auf Verpflichtung zur Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG entfällt nicht dadurch, daß der Kläger im Besitz einer befristeten Aufenthaltserlaubnis ist.

2. Eine allgemeine Gefahr iSv § 53 Abs. 6 S. 2 AuslG liegt nur dann vor, wenn jedem Angehörigen der Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit iSv § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG droht.

3. Die Frage, ob ein Ausländer bei seiner Rückkehr nach Angola aufgrund der dortigen allgemeinen Situation einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben iSv § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ausgesetzt sein wird, kann nicht generell bejaht werden. Vielmehr bedarf es einer vertieften Prüfung der jeweiligen besonderen Umstände des Einzelfalles, bei der insbesondere das jeweilige Alter des Ausländers, dessen allgemeine Konstitution und dessen Gesundheitszustand, die verwandtschaftlichen und persönlichen Beziehungen zu in Angola bereits lebenden Personen, die Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten sowie das Vorhandensein besonderer Qualifikationen zu berücksichtigen sind.

4. Die Überlebensmöglichkeiten von Kindern ohne familiären Rückhalt in Angola sind zwar nach der allgemeinen Erkenntnislage bereits an sich als bedenklich anzusehen und erfordern ein hohes Maß an Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit sowie das Erlernen und Entwickeln von Überlebensstrategien. Das Vorliegen einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib und Leben iSv

§ 53 Abs. 6 S. 1 AuslG ist jedoch entscheidend von den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles abhängig.

5. Der Umstand, in der Vergangenheit in untergeordneter Weise mit der UNITA zusammengearbeitet zu haben, vermag ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG nicht zu begründen.

6. Es besteht kein Anhalt dafür, daß jedem Angehörigen der Gruppe der Bakongo (und damit auch der Mukongo) allein wegen der Zugehörigkeit zu dieser Volksgruppe Beeinträchtigungen in Angola drohen. (amtliche Leitsätze)

Die Beklagte ist verpflichtet, hinsichtlich des Klägers zu 2) das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG für Angola festzustellen, da diesem eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben in Angola droht.

Dies folgt daraus, dass das Existenzminimum des Klägers zu 2) in Angola nicht gesichert ist.

Der Kläger besitzt nicht die danach erforderlichen familiären und persönlichen Voraussetzungen, um sein Überleben sichern zu können. Auf verwandtschaftliche Beziehungen wird er nicht zurückgreifen können, da seine Angehörigen mit Ausnahme des Klägers zu 1) entweder im Bundesgebiet leben oder unbekannten Aufenthalts sind. Er wird auch aus individuellen, allein in seiner Person und seiner besonderen Sozialisation liegenden Gründen nicht in der Lage sein, die für Kinder ohne familiären Rückhalt in Luanda unabdingbar erforderlichen Überlebenstechniken ausreichend entwickeln zu können. Wesentliche Ursache dafür ist die Entfremdung des Klägers zu 2) gegenüber seinem Heimatland. Es fehlt ihm an jeglichem im vorliegenden Zusammenhang erheblichen Bezug zu Angola. Da er bereits mit drei Jahren Angola verlassen hat und sich seit nunmehr sechs Jahren im Bundesgebiet aufhält, sind ihm die Lebensverhältnisse in seinem Heimatland völlig unbekannt. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass er mangels entsprechender Sprachkenntnisse nicht in der Lage ist, sich in Angola zu verständigen. Dadurch ist es ihm schon nicht möglich, überhaupt am allgemeinen Alltagsleben teilzuhaben. Dies schließt es erst recht aus, dass er sich die notwendigsten Lebensmittel für eine Grundversorgung verschaffen kann.

Auch im Falle einer gemeinsamen Rückkehr mit dem Kläger zu 1) gilt nichts anderes. Der Kläger zu 1) wird allenfalls zur Sicherstellung seines eigenen Lebensunterhalts, aber nicht auch noch zusätzlich zur Sicherstellung des Lebensunterhalts für den Kläger zu 2) in der Lage sein. Aus den angeführten Gründen folgt zwingend, dass eine das Überleben des Klägers zu 2) gewährleistende Fürsorge durch den Kläger zu 1) mit den extremen Lebensbedingungen in Luanda auf dem (informellen) Arbeitsmarkt dort nicht zu vereinbaren ist. Der Kläger zu 1) wird vielmehr für sein eigenes Überleben "jede" Arbeit zu jeder Tages- und Nachtzeit annehmen müssen und nicht in der Lage sein, den Kläger zu 2) in einem dessen Überleben sicherstellenden Umfang zu versorgen. Hinzukommt, das das Verhältnis der Kläger zueinander bereits während ihres bisherigen Aufenthalts im Bundesgebiet durch deutliche Spannungen geprägt ist.