OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 28.02.2000 - 4 L 33/97 - asyl.net: R8527
https://www.asyl.net/rsdb/R8527
Leitsatz:

Zuerkennung der Asylberechtigung unter dem Gesichtspunkt drohender sog. Sippenhaft aufgrund politischer Aktivitäten für die TDKP.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, TDKP, Sippenhaft, Minderjährige, Kinder, Alter, Familienangehörige, Verwandtschaftsgrad, Haftbefehl
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

Das Verwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, daß den Klägerinnen politische Verfolgung unter dem Gesichtspunkt der sogenannten Sippenhaft droht. Der Senat teilt diese Einschätzung. In Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht Münster (Urteile vom 28.10.1998 - 25 A l284/96.A - UA Seite 115 ff. und vom 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -, UA Seite 123 ff.) geht er davon aus, daß in der Türkei Sippenhaft nahen Angehörigen (Ehegatten, Eltern, Kinder und Geschwister) von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation droht. Die weiteren Einschränkungen, die das OVG Münster aaO vornimmt, daß nämlich eine solche Verfolgung nur Angehörigen von durch Haftbefehl gesuchten Personen und bei Kindern erst ab einem Alter von 13 Jahren droht, vermag der Senat den insoweit vorliegenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen.

Danach ist grundsätzlich davon auszugehen, daß nahe Angehörige politisch Verfolgter in der Türkei in deren Verfolgung einbezogen werden. Dies gilt indes nicht uneingeschränkt. Einschränkungen ergeben sich zum einen sowohl im Hinblick auf die Personen, die Sippenhaft vermitteln, als auch im Hinblick auf die, die von Sippenhaft betroffen sind. Hinsichtlich der Personen, die Sippenhaft vermitteln, ist ein gewisser Grad an politischer Aktivität und ein daraus resultierendes besonderes Verfolgungsinteresse des türkischen Staates erforderlich; bei denen, die von Sippenhaft betroffen sind, eine enge Beziehung zu den zuvor genannten Personen sowie ein Mindestalter, das nach Auffassung des Senats - anders als dies das OVG Münster aaO sieht - bei 11 Jahren anzunehmen ist.

Die Gefahr, in die politische Verfolgung eines Anderen einbezogen zu werden, besteht in der Türkei im allgemeinen nur, wenn es sich bei diesem um eine Person handelt, die als Aktivist einer militanten staatsfeindlichen Organisation gesucht wird. Dies ergibt sich aus allen in das Verfahren eingeführten Auskünften. Daß etwa auch Angehörige von Sympathisanten bestimmter politischer Gruppierungen von Maßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte betroffen werden, berichtet keiner der Gutachter, insoweit fehlt es an Referenzfällen. In erster Linie handelt es sich bei den genannten Personen um solche, die der türkische Staat im Zeitpunkt der Entscheidung über das Asylbegehren des klagenden Asylbewerbers wegen Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation oder diesbezüglicher Aktivitäten sucht. Das alles überragende Interesse, jene Organisationen zu zerschlagen, umfaßt das Bestreben, jenes Personenkreises habhaft zu werden, und zwar auch, soweit er sich ins Ausland abgesetzt hat. Insoweit teilt der Senat die Einschätzung des OVG Münster aaO.

Die weiter vom OVG Münster vorgenommene Einschränkung, daß das Interesse türkischer Behörden, des genannten Personenkreises habhaft zu werden, (nur) durch den richterlichen Haftbefehls dokumentiert werde, kann der Senat indes nicht nachvollziehen.

Eine derartige Einschränkung findet sich in keiner der in das Verfahren eingeführten Auskünfte. Den zitierten Kenntnissen ist nicht zu entnehmen, daß sich die in der Türkei festzustellende Praxis von Sippenhaft auch auf bloße Sympathisanten von militanten staatsfeindlichen Organisationen erstreckt. Von Verfolgung nicht betroffen sind daher die Angehörigen von Personen, die lediglich der Sympathie für militante Qrganisationen verdächtigt werden, aber selbst keiner Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer derartigen Organisation ausgesetzt sind. Solcher - insbesondere im Ausland lebender - lediglich dem unterstützenden Umfeld zuzurechnender Personen habhaft zu werden, hat der türkische Staat offensichtlich kein Interesse, so daß er auch auf dessen Verwandte keinen Zugriff nimmt.

Der Kreis der von Sippenhaft betroffenen Personen ist auf nahe Angehörige beschränkt. Dazu gehören Ehegatten, Eltern, Kinder ab 11 Jahren und Geschwister des politisch Verfolgten.

Diese Begrenzung erklärt sich zum Teil schon daraus, daß sich eine etwaige Verwandtschaft

ersten Grades zu einer gesuchten Person anhand der Eintragungen im Personalausweis erkennen läßt, da daraus die Namen von Vater und Mutter hervorgehen. Für Ehegatten gilt entsprechendes, weil die Personenstandsregistrierung einer Frau mit der Eheschließung an den Ort verlegt wird, an dem ihr Ehemann gemeldet ist. Grundlage für einen Zugriff auf den Ehegatten ist die zwischen Eheleuten typischerweise bestehende besondere persönliche Beziehung, die sich der Verfolger zur Ergreifung des gesuchten Ehepartners zunutze macht. Daraus folgt, daß in der Türkei in den gefährdeten Personenkreis auch Partner einer Lebensgemeinschaft einzubeziehen sind, die lediglich auf eine religiöse Zeremonie gegründet ist ("Imamehe"). Dies gilt jedenfalls dann, wenn die fragliche Lebensgemeinschaft den Sicherheitskräften bekannt ist.

Hinsichtlich der Kinder politisch Verfolgter stimmt der Senat mit der Rechtsprechung des OVG Münster aaO insoweit überein, als auch nach seiner Überzeugung eine Altersbegrenzung vorzunehmen ist. Die in den oben genannten Auskünften, Stellungnahmen pp. aufgeführten Referenzfälle der Einbeziehung von Kindern in die politische Verfolgung ihrer Eltern beziehen sich ganz überwiegend auf Kinder in schon etwas fortgeschrittenem Alter, insbesondere im Jugendalter (ab 14 Jahre). Je jünger die betroffenen Kinder werden, desto vereinzelter finden sich auch entsprechende Referenzfälle, die indes auch für Kinder im Alter unter 14 Jahren - bis hin zu 7-jährigen - vorliegen. Aus den vorliegenden Gutachten läßt sich nach Auffassung des Senats die vom OVG Münster vorgenommene Begrenzung des Alters auf 13 Jahre nicht entnehmen. Soweit überhaupt Anhaltspunkte für eine Altersbegrenzung vorhanden sind, lassen sich diese nach Auffassung des Senats aus den Regeln über die Strafmündigkeit im türkischen Strafrecht entnehmen. Danach sind ausnahmsweise Kinder schon im Alter zwischen 11 und 15 Jahren strafmündig (Art. 54 Abs. 1 Satz 1 TStGB). Eine Altersbegrenzung auf 11 Jahre kann danach für sich in Anspruch nehmen, sich jedenfalls auf eine gesetzliche Regelung stützen zu können. Der Senat geht danach davon aus, daß Kinder ab diesem Alter von Sippenhaftgefährdung bedroht sind.

Weiterhin sind in den Kreis der von Sippenhaft Bedrohten auch Eltern und Geschwister gesuchter Aktivisten einzubeziehen. Soweit in den Sachverständigengutachten hierzu einschlägigere Referenzfalle beschrieben werden, betreffen diese Eltern und Geschwister des eigentlich Gesuchten nicht signifikant weniger häufig als etwa Ehegatten und Kinder. Dies ist angesichts der Erkennbarkeit dieser Verwandtschaftsbeziehungen aus dem Personalausweis auch ohne weiteres plausibel.

Für die Einbeziehung auch weiterer, entfernterer Verwandter in die Verfolgung eines Gesuchten fehlen ausreichende Referenzfälle, um aus ihnen die Annahme ableiten zu können, daß insoweit generell eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr besteht. Es gibt insoweit wenige bekannt gewordene Einzelfälle, die den Schluß auf eine generalisierende Betrachtung nicht rechtfertigen (OVG Münster aaO).

Die vorstehend geschilderten Annahmen des Senats stehen mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Einklang, wonach eine Verfolgungsvermutung ausschließlich für Ehegatten und minderjährige Kinder Platz greift (Urteile vom 02. Juli 1985 - 9 C 35.84 -; InfAuslR 1985, 274 ff.; vom 13.01.l987 - 9 C 53.86 - InfAuslR 1987, 168 ff.; vom 26.04.1988 - 9 C 28.86 -, InfAuslR 1988, 256 ff.). In den genannten Entscheidungen hat das Bundesverwaltungsgericht aus Art. 16 a Abs. 1 GG den Rechtssatz abgeleitet, daß dann, wenn in einem Verfolgerstaat Fälle asylrechtlich relevanter Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Ehegatten und/oder minderjährigen Kindern eines politisch Verfolgten festgestellt worden sind, eine widerlegliche Vermutung dafür besteht, daß Angehörige der jeweiligen Verwandtschaftskategorie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in dessen Verfolgung einbezogen werden. Diese unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abzuleitende Vermutung gilt allerdings nicht für sonstige Familienangehörige, insbesondere nicht für Geschwister, weil sich nur diejenigen Personen, die dem Verfolgten nahestehen, in einer besonderen potentiellen Gefährdungslage befinden, der gerecht zu werden Art. 16 a Abs. 1 GG gebietet (BVerwG, Urteile vom 02.07.1985 und vom 13.01.1987 jeweils aaO).

Neben diesen sachlichen und persönlichen Einschränkungen gilt darüber hinaus die erweiternde Annahme, daß neben den Angehörigen der sogenannten Kleinfamilie im allgemeinen auch Eltern und Geschwister des politisch Verfolgten von Sippenhaft bedroht sind. Ein Widerspruch zu dem wiedergegebenen Vermutungsrechtssatz, den das Bundesverwaltungsgericht unmittelbar aus Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleitet hat, ist schon deswegen ausgeschlossen, weil es sich bei jener Annahme nicht um einen allgemeinen, auf Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleiteten und daher herkunftslandübergreifend geltenden Rechtssatz, sondern um eine generalisierende Tatsachenfeststellung für das Verfolgerland Türkei handelt, die zu treffen im Asylprozeß den Tatsacheninstanzen obliegt. Ein Rechtssatz des Inhalts, daß sich Sippenhaft unter keinen denkbaren tatsächlichen Umständen auf andere Familienangehörige als Ehegatten und minderjährige Kinder erstrecken kann, ist der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung ebensowenig zu entnehmen wie ein Rechtssatz des Inhalts, daß außerhalb der aus, Art. 16 a Abs. 1 GG abgeleiteten rechtlichen Sippenhaftvermutung auch eine tatsächliche Vermutung für die Einbeziehung in die einem anderen drohende Verfolgung ausscheidet.