EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 04.10.2018 - C-652/16 Ahmedbekova u.a. gg. Bulgarien- Asylmagazin 3/2019, S. 65 ff. - asyl.net: M26632
https://www.asyl.net/rsdb/m26632
Leitsatz:

Zum Umgang mit getrennt voneinander gestellten Asylanträgen mehrerer Familienmitglieder:

1. Nach der Qualifikationsrichtlinie sind im Rahmen des Asylverfahrens auch Bedrohungen für Familienangehörige der asylsuchenden Person zu berücksichtigen, um zu prüfen, ob sich aufgrund der familiären Bindung eine Gefahr für die asylsuchende Person selbst im vorliegenden Verfahren ergibt.

2. Die Mitgliedstaaten können Maßnahmen zum Umgang mit etwaigen Zusammenhängen zwischen Asylanträgen mehrerer Familienangehöriger ergreifen, dürfen die Anträge aber nicht gemeinsam prüfen. Dies schließt auch aus, dass die Prüfung eines dieser Anträge bis zum Abschluss des Verfahrens zur Prüfung eines anderen dieser Anträge ausgesetzt wird.

3. Wurde Angehörigen einer Familie internationaler Schutz gewährt wird, ist es zulässig, diesen Schutz auf andere Familienangehörige zu erstrecken, sofern keine Ausschlussgründe vorliegen und ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.

4. Personen, die gegen ihr Herkunftsland eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erheben, bilden keine "bestimmte soziale Gruppe". Die Beteiligung an einer solchen EGMR-Beschwerde kann aber als Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung anzusehen sein, wenn befürchtet werden muss, dass dies als ein Akt politischen Widerstands aufgefasst wird, der Repressalien zur Folge hat.

5. Nach der Asylverfahrensrichtlinie ist im Rechtsbehelfsverfahren neuer Vortrag zu berücksichtigen, jedoch nicht, wenn dieser zu spät oder nicht hinreichend konkret vorgetragen worden ist, um ordnungsgemäß geprüft werden zu können, oder wenn das Gericht feststellt, dass die tatsächlichen Gesichtspunkte nicht erheblich sind oder sich nicht hinreichend von den Gesichtspunkten unterscheiden, die von der Asylbehörde bereits berücksichtigt werden konnten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Qualifikationsrichtlinie, Unionsrecht, nationales Recht, Sippenhaft, Familieneinheit, EGMR, soziale Gruppe, Asylverfahrensrichtlinie, Asylantrag, Beschwerde, politische Verfolgung, Familienangehörige, Aussetzung des Verfahrens, neuer Vortrag, Ahmedbekova, Bulgarien
Normen: RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 10, RL 2013/32/EU Art. 33, RL 2011/95/EU Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 4,
Auszüge:

[...]

50 Daraus folgt zwar, dass einem Antrag auf internationalen Schutz als solchem nicht deshalb stattgegeben werden kann, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat oder tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, doch ist, wie der Generalanwalt in Nr. 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine solche Bedrohung eines Familienangehörigen des Antragstellers bei der Feststellung zu berücksichtigen, ob der Antragsteller aufgrund seiner familiären Bindung zu dieser bedrohten Person selbst von Verfolgung und einem ernsthaften Schaden bedroht ist. Wie im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ausgeführt, sind Familienangehörige einer bedrohten Person in der Regel gefährdet, sich ebenfalls in einer verwundbaren Situation zu befinden.

51 Daher ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 4 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz die Bedrohung eines Familienangehörigen des Antragstellers durch Verfolgung und einen ernsthaften Schaden zu berücksichtigen ist, um festzustellen, ob der Antragsteller aufgrund seiner familiären Bindung zu dieser bedrohten Person selbst einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. [...]

53 Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 muss jeder geschäftsfähige Erwachsene das Recht haben, im eigenen Namen einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Im Sinne dieser Bestimmung ist der Begriff "Erwachsener" vor dem Hintergrund der Definition des "Minderjährigen" in Art. 2 Buchst. l dieser Richtlinie dahin zu verstehen, dass er Drittstaatsangehörige und Staatenlose meint, die das 18. Lebensjahr vollendet haben.

54 Für Minderjährige sieht Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vor, dass sie in den Mitgliedstaaten, in denen sie verfahrensfähig sind, das Recht haben müssen, im eigenen Namen internationalen Schutz zu beantragen, und dass sie in allen durch diese Richtlinie gebundenen Mitgliedstaaten das Recht haben müssen, über einen erwachsenen Vertreter, z.B. über einen Elternteil oder einen anderen erwachsenen Familienangehörigen, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. [...]

58 Aus den Anforderungen einer individuellen und vollständigen Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz folgt, dass Anträge, die von den Angehörigen einer Familie getrennt gestellt werden, auch wenn bei ihnen Maßnahmen zum Umgang mit etwaigen Zusammenhängen ergriffen werden können, bezogen auf die Situation jedes einzelnen Betroffenen zu prüfen sind. Sie können daher nicht gemeinsam geprüft werden.

59 Was insbesondere die Frage anbelangt, ob die Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz, die von den Angehörigen einer Familie getrennt gestellt werden, parallel zu führen sind oder ob es der Asylbehörde im Gegenteil freisteht, die Prüfung eines Antrags bis zum Abschluss des Verfahrens zur Prüfung eines anderen dieser Anträge auszusetzen, ist zum einen festzustellen, dass es in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem sich ein Familienangehöriger u.a. auf die Bedrohung eines anderen Familienangehörigen beruft, angebracht sein kann, im Rahmen der Prüfung des Antrags des letztgenannten Familienangehörigen als Erstes zu prüfen, ob die Bedrohung tatsächlich besteht, und, soweit erforderlich, als Zweites, ob der Ehepartner und das Kind der bedrohten Person aufgrund der bestehenden familiären Bindung ebenfalls von Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden bedroht sind. [...]

68 Die Richtlinie 2011/95 sieht eine solche Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen der Person, der die Eigenschaft oder der Schutzstatuts zuerkannt worden ist, nicht vor. Aus Art. 23 dieser Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass die in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie aufgeführten Familienangehörigen der anerkannten Person, wenn sie die Voraussetzungen für die Zuerkennung nicht selbst erfüllen, bestimmte Vorteile genießen, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung. [...]

71 Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die in Art. 3 enthaltene Klarstellung, dass jede günstigere Norm mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sein muss, bedeutet, dass diese Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf. Insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (vgl. insoweit Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj, C-542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 42 und 44). Das gilt u. a. für Normen, die diese Eigenschaft oder diesen Status Personen zuerkennen, die unter einen der in Art. 12 der Richtlinie 2011/95 genannten Ausschlussgründe fallen (Urteil vom 9. November 2010, B und D, C-57/09 und C-101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115).

72 Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weist die auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der diese Eigenschaft gemäß der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt wurde, nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf. [...]

86 Unabhängig von der Frage, ob die Beteiligung eines Staatsangehörigen von Aserbaidschan an der Erhebung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen dieses Land, um Verstöße des dort an der Macht befindlichen Regimes gegen die Grundrechte feststellen zu lassen, eine "politische Überzeugung" dieses Staatsangehörigen zum Ausdruck bringt, ist im Rahmen der Prüfung der in dessen Antrag auf internationalen Schutz vorgetragenen Verfolgungsgründe zu klären, ob es gute Gründe für die Befürchtung gibt, dass die Beteiligung an der Beschwerde von diesem Regime als ein Akt politischen Widerstands aufgefasst wird, gegen den es Repressalien ergreifen könnte.

87 Bestehen gute Gründe für die Befürchtung, dass dies der Fall ist, ist daraus zu folgern, dass der Antragsteller, weil er seine Meinung zur Politik und zu den Methoden seines Herkunftslands geäußert hat, ernsthaft und nachweislich von Verfolgung bedroht ist. Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 ergibt, fällt eine solche Situation unter den dort verwendeten Begriff der politischen Überzeugung.

88 Die Gruppe von Personen, zu der die Person, die internationalen Schutz beantragt, gegebenenfalls gehört, wenn sie sich an der Erhebung einer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beteiligt, kann hingegen grundsätzlich nicht als "soziale Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angesehen werden.

89 Damit das Vorliegen einer "sozialen Gruppe" im Sinne dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nämlich zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe "angeborene Merkmale" oder einen "Hintergrund, der nicht verändert werden kann", gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, "die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten". Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als "andersartig" betrachtet wird (Urteil vom 7. November 2013, X u. a., C-199/12 bis C-201/12, EU:C:2013:720, Rn. 45). Vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht ist nicht ersichtlich, dass diese kumulativen Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. [...]