VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 18.02.2021 - 1 K 9602/18 (Asylmagazin 6/2021, S. 237 ff.) - asyl.net: M29447
https://www.asyl.net/rsdb/m29447
Leitsatz:

Zimmer in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung keine "Wohnung"; zum Maßstab für polizeiliche Maßnahmen zur Nachtzeit:

"1. Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung sind regelmäßig keine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG, wenn das hierfür erforderliche Mindestmaß an räumlicher Privatsphäre aufgrund der konkreten Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Nutzungsverhältnisses nicht gegeben ist.

2. Art. 13 Abs. 1 GG schützt eine vorhandene räumliche Privatsphäre, gewährt aber keinen Anspruch auf ein Minimum an räumlicher Privatheit.

3. Polizeiliche Maßnahmen in einem Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung sind mit einem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verbunden, der zur Nachtzeit in der Intensität einem Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG nahe kommt.

4. Die Durchsetzung der Ausreisepflicht kann eine Abschiebung zur Nachtzeit rechtfertigen, wenn verbindliche Vorgaben ausländischer Behörden diese andernfalls vereiteln würden.

(Amtliche Leitsätze; Anmerkung der Redaktion: Die Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hinsichtlich der Frage, ob ein Zimmer in einer Landeserstaufnahmeeinrichtung als Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG zu qualifizieren ist.)

Anmerkung:

Schlagwörter: Aufnahmeeinrichtung, Wohnung, Wohnungsdurchsuchung, Abschiebung, Achtung des Privatlebens, Richtervorbehalt, Unverletzlichkeit der Wohnung, Betreten, polizeiliche Maßnahmen, Gemeinschaftsunterkunft,
Normen: GG Art. 13 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 1 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

51 a) Das Betreten und Durchsuchen des Zimmers des Klägers, das Durchsuchen des Klägers, die Personenfeststellung und das Festsetzen des Klägers unter Anlegen von Einmal-Handschließen im Rahmen der Razzia am 03.05.2018 waren rechtswidrig. Das Zimmer des Klägers in der Landeserstaufnahmeeinrichtung ist zwar keine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG (aa). Auch lagen die Tatbestandsvoraussetzungen für das Betreten und Durchsuchen des Zimmers des Klägers, das Durchsuchen des Klägers sowie die Personenfeststellung vor (bb). Der mit den Maßnahmen verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers war jedoch zur Nachtzeit nicht angemessen (cc). Das Festsetzen des Klägers unter Anlegen von Einmal-Handschließen war mangels rechtmäßiger Personenfeststellung ebenfalls rechtswidrig (dd).

52 aa) Das Betreten und Durchsuchen des Zimmers des Klägers ist nicht am Maßstab des § 31 PolG zu messen. Denn bei dem Zimmer des Klägers handelt es sich nicht um eine Wohnung im Sinne von § 31 Abs. 1 Satz 1 PolG.

53 Bei der Auslegung dieser Vorschrift ist die grundrechtliche Wertung von Art. 13 Abs. 1 GG heranzuziehen. Der Begriff der Wohnung ist insoweit identisch (Würtenberger/Heckmann/Tanneberger, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 7. Aufl. 2017, § 5 Rn. 203). Art. 13 GG schützt die räumliche Privatsphäre (BVerfG, Beschluss vom 13.10.1971 - 1 BvR 280/66 -, BVerfGE 32, 54 <juris Rn. 45>). Aufgrund des engen Zusammenhangs mit der Menschenwürdegarantie (BVerfG, Urteil vom 27.02.2008 - 1 BvR 370/07 u.a. -, BVerfGE 120, 274 <juris Rn. 191>) ist der Begriff der Wohnung weit auszulegen. In den Tatbestand der Wohnung fallen alle privaten Wohnzwecken gewidmeten Räumlichkeiten, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden (BVerfG, Beschlüsse vom 09.08.2018 - 2 BvR 1684/18 -, juris Rn. 29, und vom 18.09.2008 - 2 BvR 683/08 -, juris Rn. 14). Er umfasst zur Gewährleistung einer räumlichen Sphäre, in der sich das Privatleben ungestört entfalten kann, alle Räume, die der allgemeinen Zugänglichkeit durch eine Abschottung entzogen und zur Stätte privaten Wirkens gemacht sind (BTDrucks. 15/4533 S. 11; BVerfGE 89, 1, 12; BGH, Urteil vom 10.08.2005 - 1 StR 140/05 -, juris Rn. 17). Maßgeblich ist dabei die nach außen erkennbare Willensbetätigung desjenigen, der einem Raum kraft "Widmung" den Schutz der Privatheit verschafft (Hermes, in: Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 13 Rn. 17). Für die Beurteilung, ob eine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG vorliegt, ist maßgeblich auf den Status quo (vor etwaigen Eingriffen) abzustellen. Art. 13 Abs. 1 GG gewährt keinen Anspruch eines jeden Menschen auf einen Mindeststandard an wohnlicher Privatheit, sondern schützt vor Eingriffen in eine vorhandene räumliche Privatsphäre (Papier, in: Maunz/Dürig, GG, August 2020, Art. 13 Rn. 1 u. 6; Kühne, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art. 13 Rn. 9). Entscheidend ist mithin die konkret rechtlich und tatsächlich vorgefundene Situation (Zölls, ZAR 2018, 56, 58).

54 Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs ist das Zimmer des Klägers nicht als Wohnung zu qualifizieren. Der Kläger weist zwar zutreffend darauf hin, dass die einzelnen Zimmer bzw. die jeweiligen Betten den einzelnen Nutzern individuell zugewiesen werden. Sie sind zugleich Rückzugsort und Schlafstätte für die Nutzer. Der Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG bestimmt sich zudem unabhängig von den Eigentumsverhältnissen. Dies allein rechtfertigt aber noch nicht die Einstufung des Zimmers in der LEA als Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG. Denn die konkrete Ausgestaltung der Unterbringung in der LEA in Ellwangen lässt es nicht zu, von einer ausreichend vorhandenen räumlichen Privatsphäre zu sprechen, deren Schutz Art. 13 Abs. 1 GG bezweckt. [...]

57 Auch wenn der Kläger selbstverständlich nicht inhaftiert war, beruhte sein Aufenthalt in der LEA nicht auf seiner eigenen freiwilligen, sondern auf einer behördlichen Entscheidung. Die öffentlich-rechtliche Unterbringung ließ dem Kläger in dem ihm zugewiesenen Zimmer aufgrund der Hausordnung aus Ordnungs- und Sicherheitszwecken keine ansatzweise qualitativ bemerkenswerte Privatsphäre (anders für die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, vgl. VG Hamburg, Urteil vom 15.02.2019 - 9 K 1669/18 -, juris Rn. 34). Einer derartigen Ausgestaltung des Nutzungsverhältnisses steht auch Art. 13 Abs. 1 GG nicht entgegen. Denn Art. 13 Abs. 1 GG schützt eine gegebene räumliche Privatsphäre, gewährt darauf aber keinen Anspruch (dies verkennt Zölls, ZAR 2018, 56, 57). Dies zeigt auch ein Vergleich mit Hafträumen. Bei einem Haftraum handelt es sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich nicht um eine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG, da von dessen Zuweisung als persönlicher und vom allgemeinen Anstaltsbereich abgegrenzter Lebensbereich das Hausrecht der Anstalt unberührt bleibt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30.05.1996 - 2 BvR 727/94 -, juris Rn. 13).

58 Vergleichbares gilt auch für Unterkunftsräume eines Soldaten oder Polizeibeamten (BGH, Urteil vom 10.08.2005 - 1 StR 140/05 -, juris Rn. 18). [...]

59 Pauschal nicht vergleichbar sind hingegen Obdachlosenunterkünfte (vgl. VG Augsburg, Beschluss vom 20.10.2005 - Au 6 S 05.773 -, juris Rn. 23) und Krankenzimmer in einer Rehaklinik trotz Betretungsrechten des Krankenhauspersonals (vgl. BGH, Urteil vom 10.08.2005 - 1 StR 140/05 -, juris Rn. 16 ff.), die regelmäßig als geschützte Wohnungen angesehen werden. [...]

60 Von untergeordneter Bedeutung ist die zeitliche Dauer der Unterbringung (Engler, ZAR 2019, 322, 325). Der Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG knüpft nicht an ein Zeitmoment an. Er besteht unabhängig davon, wie lange die räumliche Privatsphäre bereits oder noch andauert. Irrelevant ist daher, wie viele Wochen oder Monate einzelne Asylbewerber in der LEA untergebracht sind.

61 Rechtlich nicht erheblich ist zuletzt, dass § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG zum Aufenthalt in Aufnahmeeinrichtungen die Pflicht statuiert, in der zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu "wohnen". Denn der Begriff des "Wohnens" wird in der gesamten Rechtsordnung in vielfältiger Weise ohne einheitliches Verständnis verwendet. [...]

62 bb) Die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Betreten und Durchsuchen des Zimmers des Klägers, das Durchsuchen des Klägers sowie die Personenfeststellung lagen vor. [...]

67 cc) Der mit den Maßnahmen verbundene Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers war nicht verhältnismäßig, weil er jedenfalls zur Nachtzeit nicht angemessen war.

68 Die einzelnen Maßnahmen stehen im Ermessen der Polizei. Sie müssen deshalb insbesondere verhältnismäßig sein. [...]

69 [...]Im vorliegenden Fall stellt die konkrete Durchführung zusammen mit dem Betreten und Durchsuchen des Zimmers des Klägers sowie dem Durchsuchen seiner Person zur Nachtzeit allerdings einen beachtlichen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG dar. Es handelt sich bei dem Zimmer, in dem die Maßnahmen durchgeführt wurde, zwar nicht um eine Wohnung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 GG, es dient aber der vorübergehenden Unterbringung von Asylbewerbern und stellt für diese Schlafstätte und Rückzugsort dar. Bei der Gewichtung der Eingriffsintensität ist die unverkennbare Nähe zwischen dem Schutz der räumlichen Privatsphäre aus Art. 13 Abs. 1 GG und der aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes (vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, August 2020, Art. 13 Rn. 1; Engler, ZAR 2019, 322, 324) besonders zu berücksichtigen.

70 Entscheidend ist dabei, dass die Maßnahmen bereits ab 5:19 Uhr begonnen wurden und damit in der besonders geschützten Nachtzeit durchgeführt wurden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gilt als Nachtzeit bei Wohnungsdurchsuchungen ganzjährig in Deutschland einheitlich der Zeitraum von 21 Uhr bis 6 Uhr (BVerfG, Beschluss vom 12.03.2019 - 2 BvR 675/14 -, juris Rn. 58 ff.; anders noch § 31 Abs. 4 PolG). Nächtliche Durchsuchungen sind von Verfassungs wegen nur ausnahmsweise zulässig, weil eine Wohnungsdurchsuchung während dieser Zeit ungleich stärker in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift als zur Tageszeit. Stellt bereits die Durchsuchung der Wohnung bei Tage einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Wohnungsinhabers dar, sind bei einer nächtlichen Wohnungsdurchsuchung zusätzlich die Nachtruhe und die damit verbundene besondere Privatsphäre betroffen (BVerfG, Beschluss vom 12.03.2019 - 2 BvR 675/14 -, juris Rn. 61). Dem hat der Gesetzgeber Rechnung getragen, indem er das Betreten von Wohnungen während der Nachtzeit gemäß § 31 Abs. 1 Satz  PolG nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr oder schweren Lebensgefahr für einzelne Personen erlaubt.

71 Diese Wertung ist auf den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers zu übertragen, der aufgrund der konkreten Gegebenheiten einem Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG sehr nahe kommt. Zur berücksichtigen ist dabei, dass der Kläger im Zimmer, das ihm als Schlafstätte zugewiesen war, trotz der ansonsten umfangreichen Nutzungseinschränkungen damit rechnen durfte, während der Nachtruhe nicht gestört zu werden. Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch vor 6 Uhr im Zimmer des Klägers war folglich von einigem Gewicht, dem kein ansatzweise ähnlich hohes verfassungsrechtliches Schutzgut gegenüberstand. Dies gilt auch unter Berücksichtigung von § 5 Abs. 2 PolG, wonach erst ein erkennbares Missverhältnis des durch die polizeiliche Maßnahme herbeigeführten Nachteils zu dem beabsichtigten Erfolg zur Rechtswidrigkeit einer polizeilichen Maßnahme führt. Die getroffenen Maßnahmen dienten nicht der Abwehr einer gemeinen Gefahr, Lebensgefahr oder schweren Gesundheitsgefahr. Die Gefahrenprognose verlangte nicht, dass ohne weiteres Abwarten noch in den Nachtstunden gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen getroffen werden. Die Straftaten, die die Einstufung als Kriminalitätsschwerpunkt rechtfertigten, lagen allesamt Tage, Wochen oder sogar Monate zurück. Es handelte sich zudem überwiegend um Straftaten, die keine Verbrechen im Sinne des § 12 Abs. 1 StGB sind. Es ist nicht ersichtlich, warum die Maßnahmen nicht erst nach 6 Uhr hätten durchgeführt werden können, ohne dass deren Zweck dadurch wesentlich vereitelt worden wäre. Anhaltspunkte dafür, dass die Verabredung bzw. Begehung von Straftaten gerade in den Nachtstunden stattfanden, wurden weder dargelegt noch sind solche ersichtlich. Es war auch nicht zu erwarten, dass viele Asylbewerber nach 6 Uhr nicht mehr in ihren Zimmern hätten angetroffen werden können. Denn für die Dauer der Pflicht, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, darf nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AsylG grundsätzlich keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden.

72 Rechtlich nicht relevant ist, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Nachtzeit bei Wohnungsdurchsuchungen erst 2019 und damit nach den hier streitgegenständlichen Vorkommnissen erging. Auch der Gesetzgeber reagierte erst 2020 mit der Neufassung in § 36 Abs. 4 PolG n.F., in dem er die Nachtzeit einheitlich für die Stunden von 21 Uhr bis 6 Uhr festsetzte. Dies erklärt zwar, warum die Polizeiführung mit Verweis auf § 31 Abs. 4 PolG noch davon ausging, die Nachtzeit dauere in den Sommermonaten lediglich von 21 Uhr bis 4 Uhr an. Es ändert aber nichts daran, dass sich der Schutz der Nachtzeit von Verfassungs wegen geboten bereits 2018 auch auf die Zeit von 4 Uhr bis 6 Uhr morgens erstreckte (BVerfG, Beschluss vom 12.03.2019 - 2 BvR 675/14 -, juris Rn. 66). Die davon abweichende Regelung des § 31 Abs. 4 PolG war seit geraumer Zeit verfassungswidrig, wenn auch nicht durch das Bundesverfassungsgericht mangels Vorlage für nichtig erklärt, und ist deshalb für die hier vorzunehmende Abwägung nicht von Bedeutung. [...]

74 b) Die Durchführung der Abschiebung des Klägers am 20.06.2018 war mit Ausnahme des zeitweisen Einbehaltens des Geldbeutels des Klägers rechtmäßig. [...]

81 cc) Die einzelnen Maßnahmen im Rahmen der Abschiebung waren geeignet, erforderlich und auch im engeren Sinn verhältnismäßig. [...]

83 Der Verhältnismäßigkeit der Abschiebung steht nicht entgegen, dass die Polizeibeamten den Kläger um kurz nach 4 Uhr in seinem Zimmer aufgesucht bzw. ihn dorthin begleitet haben (1). Die weiteren streitgegenständlichen Maßnahmen (die Durchsuchung des Klägers, der Einsatz körperlicher Gewalt, der liegende Transport des Klägers und seine zeitweise Fesselung mit Hand- und Fußschellen) waren ebenfalls verhältnismäßig (2). Zuletzt war die Abschiebung auch nicht aufgrund des polizeilichen Kräfteansatzes in Gänze unverhältnismäßig (3).

84 (1) Anders als im Rahmen der Razzia war der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers durch das Betreten des Zimmers des Klägers während der Abschiebung nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne, unabhängig davon, ob das Betreten zugleich eine Durchsuchung im rechtlichen Sinne darstellt (so wohl zutreffend bei Vorliegen einer Wohnung, vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 18.08.2020 - 4 Bf 160/19 -, juris Rn. 33 ff.). Zwar handelte es sich bei dem Aufsuchen bzw. Begleiten des Klägers in seinem Zimmer zur Nachtzeit um einen Eingriff in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG von einigem Gewicht. Dieser Eingriff war aber zur Durchsetzung der Ausreisepflicht gerechtfertigt. Der Verteidigung der Rechtsordnung kommt ein bedeutsames Gewicht zu, da eine negative Vorbildwirkung anderweitig das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit und die Befriedungsmacht des Staates erschüttern könnte. Auch der Gesetzgeber sieht daher einfachgesetzlich nunmehr in § 58 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausdrücklich Durchsuchungen von Wohnungen zur Nachtzeit vor, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck der Abschiebung andernfalls vereitelt wird. Diese verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende Wertung lässt sich auf den Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht übertragen. Das Recht des Klägers auf Wahrung seiner Privatsphäre und auf ungestörte Nachtruhe vermag sich auch unter Berücksichtigung des gebotenen strengen Maßstabs nicht gegenüber dem Interesse des Beklagten an einer zeitnahen Abschiebung des Klägers durchzusetzen. Im Rahmen der Abwägung der betroffenen Schutzgüter ist zu berücksichtigen, dass es der Ausreisepflichtige selbst in der Hand hat, die Anwendung von Zwangsmitteln abzuwenden, indem er seiner gesetzlichen Ausreisepflicht freiwillig nachkommt. Demgegenüber kann der Beklagte nicht ohne weiteres darauf verwiesen werden, die Durchsetzung der Ausreisepflicht vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer im Wege unmittelbaren Zwangs so zu planen, dass eine nächtliche Störung der Privatsphäre von vornherein ausscheidet. Denn er ist bei der Planung und Durchführung der Abschiebung nicht frei. Vielmehr geben die erforderliche Abstimmung mit weiteren an der Abschiebung beteiligten Behörden und nicht zuletzt das Angewiesensein auf für eine Flugabschiebung zur Verfügung stehende Flüge und Flugzeiten die Parameter der Abschiebung vor (OVG Bremen, Beschluss vom 30.11.2019 - 2 S 262/19 -, juris Rn. 22). Dies gilt besonders für die Abstimmung mit den italienischen Behörden, auf deren Vorgaben der Beklagte keinen Einfluss hat. Die Wertung des § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG, wonach die Organisation der Abschiebung keine Durchsuchung zur Nachtzeit rechtfertigt, findet deshalb zumindest auf verbindliche Vorgaben anderer Staaten keine Anwendung (vgl. VG Hamburg, Beschluss vom 01.09.2020 - 5 V 3671/20 -, Rn. 15 ff.). Ein alternativer Aufgriff des Abzuschiebenden am Tag zuvor vor Beginn der Nachtzeit würde allein schon wegen der Dauer des damit verbundenen Freiheitsentzugs wesentlich intensiver in die Rechte des Ausreisepflichtigen eingreifen.

85 (2) Die Durchsuchung des Klägers, der Einsatz körperlicher Gewalt, der liegende Transport des Klägers und seine zeitweise Fesselung mit Hand- und Fußschellen waren verhältnismäßig.

86 Die dabei erfolgte Anwendung unmittelbaren Zwangs diente dem legitimen Ziel, den Aufenthalt des vollziehbar aus dem Bundesgebiet ausreisepflichtigen Klägers zu beenden. [...]

88 (3) Die Abschiebung war zuletzt auch nicht aufgrund des polizeilichen Kräfteansatzes in Gänze unverhältnismäßig. [...]

91 dd) Das zeitweise Einbehalten des Geldbeutels war hingegen nach Überprüfung der darin enthaltenen Barmittel nicht vom Vollstreckungsauftrag umfasst und daher rechtswidrig. Anders als bei den Identitätspapieren bestand kein Anlass, den Geldbeutel zunächst noch weiter einzubehalten und ihn erst später wieder auszuhändigen. [...]