VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.12.2020 - A 1 K 3918/20 - asyl.net: M29455
https://www.asyl.net/rsdb/m29455
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung hinsichtlich Afghanistan wegen Abkehr vom Islam:

Personen, die sich vom islamischen Glauben abgewendet haben und sich keiner Religion mehr zugehörig fühlen, sind aufgrund der wegen Apostasie drohenden Verfolgung als Flüchtlinge anzuerkennen. Es ist Ihnen nicht zumutbar, entgegen ihrer festen Überzeugung zum Schein an muslimischen Riten teilzunehmen. Dies können Betroffene jedoch in Afghanistan nicht ohne Gefahr vermeiden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Apostasie, Flüchtlingsanerkennung, Atheisten, Atheismus, religiöse Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung des Gerichts ist es unverzichtbarer Bestandteil der weltanschaulichen ldentität des Klägers, sich nicht mehr mit dem muslimischen Glauben zu identifizieren und nicht an muslimischen Riten, insbesondere dem öffentlichen, fünfmal täglichen Gebet, dem Fasten im Ramadan, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten, teilzunehmen. Es ist ihm daher nicht zumutbar, zum Schein unter Verleugnung seiner weltanschaulichen Identität an muslimischen Riten teilzunehmen, um in seiner Umgebung nicht negativ aufzufallen. Die Abkehr von der islamischen Religion würde unweigerlich auffallen, zumal der Kläger, der nie in Afghanistan gelebt hat, als Neuankömmling und "Fremder" auffallen und daher unter Beobachtung stehen würde. Seine fehlende islamische Glaubensüberzeugung würde also seiner Umgebung nicht verborgen bleiben, z.B. durch Nichtteilnahme an islamischen Riten (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen, die vom Islam abgefallen sind, von KonvertitInnen, von Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten und von Personen, die öffentlich Kritik am Islam üben; Behandlung durch Gesellschaft und Staat; Möglichkeiten zur Ausübung christlicher Religion; Veränderungen hinsichtlich der Lage von ChristInnen; Gesellschaftliche Wahrnehmung von Rückkehrerinnen aus Europa, 15.06.2020, S. 6 ff.). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Privatsphäre nach westlichen Maßstäben innerhalb einer afghanischen Großfamilie nicht existiert. Für einen afghanischen Atheisten ist es deshalb praktisch unmöglich, sich Zusammenkünften mit Muslimen zu verweigern, ohne sich als Abtrünniger vom Islam zu offenbaren. Heute stehen in Afghanistan mehr Moscheen als je unter den Taliban. Wer nicht betet, muss mit Fragen rechnen (vgl. Dr. Danesch, Anfragebeantwortung zur Situation von Atheisten in Afghanistan, 03.07.2012, S. 6). Das Auswärtige Amt stellt fest, dass es auch in einer Stadt wie Kabul auf Dauer nicht zu verheimlichen wäre, wenn eine Person nicht muslimischen Glaubens ist (Auswärtiges Amt, Auskunft zur Situation von Atheisten in Afghanistan; 13.05.2012).

Der Kläger hat wegen seiner Glaubensabkehr mit Verfolgungshandlungen zu rechnen. Der Islam ist in Afghanistan nach Art. 2 der afghanischen Verfassung die Staatsreligion. Der verbietet den Abfall vom Glauben (sog. Apostasie). Die Konversion wird mit der Todesstrafe sanktioniert. Dieses grundsätzliche Verbot schlägt sich in Art. 2 und 3 der Verfassung vom 27.01.2004 nieder. Demzufolge besteht in Afghanistan zwar Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionswahl beinhaltet, diese gilt jedoch nicht für Muslime. Es ist davon auszugehen, dass für vom Islam zum Christentum konvertierte Afghanen die Ausübung ihrer Religion nicht gestattet und praktisch auch nicht möglich ist, sie deshalb mit entsprechenden staatlichen bzw. vor allem nichtstaatlichen Diskriminierungen durch die eigene Familie oder ihr Wohnumfeld bis hin zur Todesstrafe bedroht werden, falls ihr Glaubenswechsel in Afghanistan bekannt wird (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 18.06.2018 - 4 A 461/17 - juris m.w.N.; AA, Lagebericht Afghanistan 2019, S. 11). Auch der UNHCR (Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.04.2016, S. 61) führt aus, dass Apostasie nach allgemeiner islamischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten "ungeheuerlichen Straftaten" fällt, die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen. Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grund- und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren. Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. Der islamische Rat in Kabul hat im Jahr 2012 eine Erklärung herausgegeben, nach der in Afghanistan das islamische Recht herrsche. Apostasie wurde hierbei noch einmal ausdrücklich als Todsünde bezeichnet. Die afghanische Regierung hat diese Erklärung übernommen und sie auf ihrer offiziellen Website veröffentlicht. Präsident Karzai hat die Erklärung des Rates in einer Rede ausdrücklich als richtig bezeichnet (Dr. Danesch, Anfragebeantwortung zur Situation von christlichen Konvertiten vom 03.07.2012, S. 3).

Auch wenn es derzeit keine Berichte zu staatlicher Verfolgung aufgrund von Apostasie oder Blasphemie gibt, so droht ApostatInnen und KonvertitInnen Gefahr bis hin zur Ermordung hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (vgl. BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, S. 286). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend  wahrgenommen werden. Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren. So wird berichtet, dass ApostatInnen oder KonvertitInnen von der afghanischen Gesellschaft als Geächtete behandelt werden. Die meisten würden versuchen, außerhalb des Hauses als Muslime durchzugehen, um dies zu vermeiden. Bei Bekanntwerden könnten sie Übergriffen ausgesetzt sein und würden potentiell Gefahr laufen, getötet zu werden (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von Personen, die vom Islam abgefallen sind, von KonvertitInnen, von Personen, die sich nicht an islamische Regeln halten und von Personen, die öffentliche Kritik am Islam üben: Behandlung durch Gesellschaft und Staat; zur Ausübung christlicher Religion; Veränderungen hinsichtlich der Lage von ChristInnen; Gesellschaftliche Wahrnehmung von RückkehrerInnen aus Europa, 15.06.2020, S. 6 ff.). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019, S. 286).

Vor diesem Hintergrund haben jedenfalls Atheisten, die - wie der Kläger - aus ernsthafter und die Persönlichkeit prägenden Überzeugung vom Glauben abgekehrt sind und sich deshalb der Teilnahme an religiösen Riten widersetzen, mit Verfolgungshandlungen jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure zu rechnen, ohne dass effektiver Schutz im Sinne des § 3d AsylG geboten wird.

Dem Kläger steht auch kein interner Schutz nach § 3e AsylG zur Verfügung. Die geschilderten fahren für vom Glauben abgefallen Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in den Städten, so dass es keinen Landesteil gibt, in dem der Kläger keine begründete Furcht vor Verfolgung haben muss. [...]