Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann aus Afghanistan:
1. Auch für alleinstehende und leistungsfähige Männer sind die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG regelmäßig erfüllt.
2. Dies gilt jedenfalls dann, wenn keine besonders günstigen Umstände vorliegen. Von besonders günstigen Umständen ist insbesondere bei Bestehen eines familiären und sozialen Netzwerks, der nachhaltigen finanziellen Unterstützung durch Dritte oder erheblichen finanziellen Rücklagen auszugehen.
3. Von einer erhöhten Gefährdung ist zudem bei Personen hazarischer Volkszugehörigkeit auszugehen, die Afghanistan schon als Minderjährige verlassen haben.
(Leitsätze der Redaktion; anschließend an VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 - asyl.net: M29309; OVG Bremen, Urteil vom 24.11.2020 - 1 LB 351/20 (Asylmagazin 1-2/2021, S. 24 ff.) - asyl.net: M29195)
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Bei Zugrundelegung des vorgenannten Maßstabs droht dem Kläger unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation und der aktuellen Erkenntnislage zu Afghanistan im Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Es ist anzunehmen, dass es ihm - insbesondere unter Berücksichtigung der Auswirkungen der derzeitigen COVID-19-Pandemie - nicht möglich sein wird, sein Existenzminimum bei einer Rückkehr nach Afghanistan zu sichern.
In Anbetracht der erheblichen Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf die Wirtschaft in Afghanistan ist bereits bei einem gesunden, alleinstehenden und erwachsenen Mann nicht mehr ohne weiteres grundsätzlich die Sicherung des Existenzminimums in Afghanistan anzunehmen. Das Gericht schließt sich insoweit der aktuellen Rechtsprechung des OVG Bremen im Urteil vom 24. November 2020 - 1 LB 351/20 und des VGH Mannheim im Urteil vom 17. Dezember 2020 - A 11 S 2042/20 (jeweils juris) an und verweist zur näheren Begründung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die dortigen Ausführungen. Die allgemeine humanitäre und vor allem die Arbeitsmarktsituation hat sich durch die Pandemie in Afghanistan erheblich verschlechtert. Aus den aktuellen Erkenntnismitteln (vgl. bspw. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 21. Juli 2020, Kurzinformation der Staatendokumentation, Covid-19 Afghanistan) ist insbesondere ersichtlich, dass die Covid-19-Pandemie schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft Afghanistans und das Wohlergehen der Bevölkerung haben wird. Zur weiteren Begründung wird insoweit auf die Ausführungen in den oben bereits genannten obergerichtlichen Entscheidungen des OVG Bremen und des VGH Mannheim verwiesen, denen sich das Gericht anschließt. Bei dem Kläger handelt es sich hier zwar um einen alleinstehenden, jungen und arbeitsfähigen Mann, bei dem unter bestimmten Voraussetzungen von der Erreichung des Existenzminimums in Afghanistan trotz der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie noch ausgegangen werden kann. Bei ihm ist jedoch zunächst kein weiterer günstiger Umstand festzustellen, da für ihn insbesondere kein funktionierendes Familiennetzwerk in Afghanistan ersichtlich ist. Er gab in der mündlichen Verhandlung zwar an, im regelmäßigen Kontakt mit seiner Familie zu stehen, diese wird ihm indes keine Unterstützung bieten können, sondern im Gegenteil vielmehr von ihm Unterstützung erwarten. Denn sein Vater ist bereits verstorben und seine Mutter nunmehr verwitwet und diese lebt allein mit zwei Brüdern und einer Schwester des Klägers. Seine Brüder sind mit 15 und 13 Jahren noch minderjährig und noch nicht in der Lage, erheblich zum Familienunterhalt beizutragen. Die Familie lebt vielmehr nach Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung derzeit ausschließlich von seiner finanziellen Unterstützung. In Anbetracht dessen wird voraussichtlich vom Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan erwartet werden, dass er seine Familie weiterhin wirtschaftlich unterstützt, weshalb er nicht nur sein eigenes Existenzminimum zu erwirtschaften hat, sondern auch seine Familie unterhalten muss.
Dem hingegen sind zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine anderweitigen Familienmitglieder mehr ersichtlich, welche dem Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan voraussichtlich erheblich unterstützen könnten. Auf Nachfrage gab er in der mündlichen Verhandlung an, dass er in Afghanistan von niemandem Unterstützung erfahren würde. Dies erscheint für das Gericht bereits in Anbetracht der Zeitdauer seiner Abwesenheit aus Afghanistan von nunmehr über fünf Jahren, der in dieser Zeit auch aufgrund der COVID-19-Pandemie erheblich verschlechterten wirtschaftlichen Situation in Afghanistan und der bestehenden Vorbehalte gegen Rückkehrer aus Europa selbst bei Außerachtlassung der von ihm behaupteten Konversion nachvollziehbar.
Zwar hat der Kläger unter Berücksichtigung der von ihm im Nachgang zur mündlichen Verhandlung am 18. Januar 2021 eingereichten Unterlagen nicht glaubhaft gemacht, dass seine Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen erheblich eingeschränkt ist. Denn er reichte insoweit lediglich erheblich veraltete Berichte über ärztliche Behandlungen aus dem Jahr 2017 ein, wonach er damals wegen psychischer Störungen und Verhaltensstörungen durch schädlichen Gebrauch von Alkohol und Cannabinoiden behandelt worden war. Es sind jedoch trotz Aufforderung keinerlei aktuelle ärztliche Unterlagen für den Kläger ersichtlich, welche dessen aktuellen Behandlungsbedarf oder etwaige Leistungseinschränkungen belegen würden. Der Kläger gab vielmehr in der mündlichen Verhandlung sinngemäß an, arbeiten zu können und zu wollen.
Die Arbeitsfähigkeit des Klägers allein ist jedoch unter Berücksichtigung der oben genannten Umstände nicht ausreichend, um hier anzunehmen, dass der Kläger in Afghanistan sein Existenzminimum erreichen wird.
Im Gegensatz zu anderen Rückkehrern wird die Eingliederung des Klägers in die afghanische Gesellschaft zudem zusätzlich durch dessen Volkszugehörigkeit zu den Hazara erschwert. Denn die schiitische Minderheit der Hazara stellt mit einem Anteil von 10 Prozent der Bevölkerung eine religiöse Minderheit in Afghanistan dar, welche weiterhin diskriminiert wird. Von den Hazara wird nach der UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 31. Mai 2018 (S. 106 f.) berichtet, dass sie weiterhin gesellschaftlich diskriminiert und gezielt durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, körperliche Misshandlung und Inhaftierung erpresst werden. Hazara, die überwiegend Schiiten sind, wurden bereits in der Vergangenheit durch die sunnitische Bevölkerungsmehrheit ausgegrenzt und diskriminiert. Seit dem Ende des Taliban-Regimes im Jahr 2001 haben sie Berichten zufolge zwar auch erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht. Seit den letzten Jahren mehren sich aber wieder Berichten zufolge die Fälle von Schikanen, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch die Taliban, den Islamischen Staat und andere regierungsfeindliche Kräfte. Während einige Quellen angeben, dass die offene Diskriminierung der Schiiten durch die Sunniten abgenommen habe, berichten andere, dass eine derartige Diskriminierung an bestimmten Orten weitergehe. Regierungsfeindliche Kräfte betrachten Schiiten Berichten zufolge als "Ungläubige", "Abtrünnige" oder "Halb-Muslime". Ferner wird berichtet, dass die gewalttätigen Angriffe regierungsfeindlicher Kräfte gegen die schiitische Bevölkerung seit 2016 beträchtlich zugenommen haben. Diese Angriffe erfolgten in Form von Verschleppungen und Entführungen, gezielten Tötungen, Angriffen auf Schiiten an Gebetsstätten oder in Dörfern sowie komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen (s. UNHCR a.a.O. S. 71). Hazara werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan - zuletzt aktualisiert am 21. Juli 2020, S. 288).
Bei dem Kläger ist zudem noch erschwerend zu berücksichtigen, dass er bereits als Schüler im Alter von 14 Jahren aus Afghanistan ausgereist ist und in diesem Land noch nie als Erwachsener gelebt oder gearbeitet, beziehungsweise sich auf Arbeitssuche begeben hat. Die vom Bundesamt in Bezug genommene Berufserfahrung des Klägers in Afghanistan besteht lediglich aus familiärer Hilfe auf dem damals noch vorhandenen Grundstückseigentum der Familie des Klägers. Dieses ist jedoch nach dem Umzug der Familie des Klägers nicht mehr verfügbar. Zudem sind Erfahrungen als kindlicher Helfer bei landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf dem Familiengrundstück nicht geeignet, dem Kläger bei der Suche nach einem existenzsichernden Einkommen erheblich zu helfen. Dies gilt insbesondere in Großstädten in Afghanistan, welcher wegen ihrer größeren Anonymität bevorzugt als Rückkehrorte für Rückkehrer aus Europa in Betracht kommen. Der Kläger hat vielmehr die prägenden Jahre der Pubertät vom Ende des 15. bis nunmehr Anfang des 22. Lebensjahres im westlichen Europa in Norwegen und in Deutschland verbracht, ohne seither nach Afghanistan zurückgekehrt zu sein. Zwar erscheint die von ihm behauptete Konversion aus den oben genannten Gründen nicht glaubhaft; gleichwohl ist aus diesen Umständen und den nachgewiesenen Kontakten zu Christen eine gewisse Verwestlichung des Klägers durch seinen nunmehr über sechsjährigen Aufenthalt in Westeuropa anzunehmen, welche seine Wiedereingliederung in Afghanistan ebenfalls erheblich erschweren wird. [...]