1. Ein Sachvortrag ist nicht deshalb unglaubhaft, weil der Verfolgte die Verfolgunsgmotive nicht schlüssig erklären kann. Es ist nicht Aufgabe der verfolgten Person, das vielleicht inkonsistent erscheinende Verhalten ihrer Verfolger zu erklären. Insbesondere die Taliban agieren aus willkürlichen Motiven, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind.
2. Durch die starke soziale Kontrolle besteht oft noch mehrere Jahre nach der Flucht die Gefahr einer Identifizierung und Verfolgung durch die Taliban.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das Gericht ist überzeugt von der Richtigkeit des vom Kläger vorgetragenen Verfolgungsschicksals. Sein Vortrag ist glaubhaft.
Der Vortrag des Kl6gers ist in sich schlüssig und weist, soweit man dies nach Ablauf eines Zeitraums von mehr als fünf Jahren erwarten kann, Indizien dafür auf, dass der Kläger von tatsächlich Erlebtem berichtet. Es gibt keine relevanten Widersprüche zwischen dem Vortrag in der Anhörung und in der mündlichen Verhandlung. Seide Vorträge waren detailreich und lebensnah. Der Kläger hat insbesondere nachvollziehbar erklären können, wieso er aufzufinden war für die Verfolger, ebenso wie er hat erklären können - soweit so etwas überhaupt möglich und die Frage hiernach überhaupt sinnvoll ist - wieso er gesucht wurde und nicht etwa sein Vater. Hier hat er nicht versucht, den Vortrag anzureichern, sondern hat sich auf seine Schwierigkeiten konzentriert. Entgegen der Ansicht der Beklagten meint das Gericht nicht, dass es hilfreich ist, die Antragsteller aufzufordern in einem Asylverfahren das vielleicht inkonsistent erscheinende Verhalten des Verfolgers zu erklären. Dieses Verhalten ist dem Verfolgten naturgemäß ebenso ein Rätsel wie dem Anhörenden und dennoch kann es sich ebenso zugetragen haben. Dies liegt darin begründet, dass Verfolger nicht immer logisch vorgehen, sondern ggf. von Erwägungen bestimmt werden, die sich nicht immer aufdrängen müssen. Dies gilt umso mehr als hier eine Verfolgung durch die regierungsfeindlichen Gruppen, also die Taliban oder eine vergleichbare Gruppierung, vorgetragen wird, die-sich durchaus von willkürlichen Erwägungen leiten lassen, also auch etwa den Vater uninteressant finden können, den Kläger aber der Verfolgung wert. [...]
Der Kläger wurde in Afghanistan wegen des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gemäß § 3b AsylG verfolgt. Die Taliban, bzw. der Verfolger, ordneten ihn der sozialen Gruppe der Unterstützer westlicher Organisationen, bzw. der Familienangehörige von Unterstützern westlicher Organisationen zu. Dabei ist es ohne Belang, ob der Kläger die Tätigkeit seines Schwagers tatsächlich unterstützte, es ist ausreichend, dass die Verfolger dies unterstellten, vgl. § 3b Abs. 2 AsylG. [...]
Zwar ist der Kläger nicht persönlich für westliche Organisationen tätig gewesen, sondern nur sein Schwager. Dies ist dem Verfolgenden, wie sich den Schilderungen des Klägers auch entnehmen lässt, bekannt. Das Interesse an Informationen zu dem Schwager war so groß, dass der Kläger bedroht wurde. Dies ist plausibel, denn es ist bekannt, dass Tätigkeiten für westliche Organisationen von den Taliban (und anderen regierungsfeindlichen islamistischen Gruppierungen) als Verrat empfunden werden und von ihrer "Paralleljustiz" geahndet werden, und zwar mit dem Tod (vgl. EASO, Afghanistan, Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Dezember 2017, S. 36, 37; UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 49). Es ist ebenfalls bekannt, dass diese Verfolgung auch Familienangehörige erfasst (vgl. EASO, Afghanistan - Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Dezember 2017, S. 66 hinsichtlich von Familienangehörigen der ANSF). Dass hiervon der Kläger betroffen ist, liegt nahe, da er mit dem Schwager jeden Tag unterwegs war, wenngleich auch nur bis zu dem Betrieb des Klägers. So war der Kläger jedenfalls dem Schwager zuzuordnen. Es ist auch wahrscheinlich, dass das Verschwinden des Schwagers dem Verfolger auffiel, denn der Schwager ist offensichtlich gefährdet gewesen, andernfalls hätte er nicht nach Deutschland einreisen können aufgrund seiner Tätigkeit für die Deutschen, d.h. er war im Visier der Verfolger und ist ihnen möglicherweise nur knapp entronnen. So lässt sich Dokumenten entnehmen, dass teilweise für andere Dolmetscher westlicher Organisationen etwa dieses Entrinnen nicht von Erfolg gekrönt war und die westlichen Organisationen mit ihrem Schutz solange gezögert haben, dass ihr afghanischer Unterstützer dies vor einer Ausreise mit dem Leben bezahlte. Das Gericht ist der Überzeugung, dass der Kläger, obgleich er "nur" Familienangehöriger (zur Verfolgung von Familienangehörigen: Amnesty International, Gutachten an VG Wiesbaden, 05.02.2018, S. 17/18/19; UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 54) ist, bei Rückkehr auch nach einem Zeitraum von fast sieben Jahren mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit noch von Verfolgung bedroht ist. Es gibt nach der Auskunftslage allein in Kabul, wo der Kläger herkommt und wieder eintreffen würde, 1500 Talibanspione unterschiedlicher Netzwerke mit unterschiedlichen Aufgaben (vgl. EASO, a.a.O., S. 69-70; Amnesty International, a.a.O ., S. 43). So gibt es solche für Spezialoperationen, d.h. Großangriffe auf hochrangige Personen, zu denen der Kläger sicher nicht gehört. Insoweit ist von ca. 100 Personen die Rede, bei denen die Taliban den Aufwand nicht scheuen würden, sie in großen Städten aufzuspüren (vgl. EASO, a.a.O., S. 69 ff). Indes ist zu bedenken, der Kläger ist in ihr Sichtfeld geraten, er wurde bereits gesehen und für "würdig" erachtet, getötet zu werden. Der Kläger wird aus dem westlichen Ausland zurückkehren, was bereits für sich genommen problematisch werden kann (vgl. Amnesty International, Gutachten an VG Wiesbaden, 05.02.2018, S. 14/15; UNHCR, a.a.O., S. 52) und er wird durch diese Rückkehr eher auffallen, sei es durch andere Kleidung, andere Verhaltensweisen, das Verlorensein in der Hauptstadt, in der er erst wieder Fuß fassen muss. Selbst wenn seine Eltern dort noch leben sollten, so wird Nachbarn auffallen, dass dort nunmehr ein Mann lebt, der zuvor noch nicht da war. Der Kläger wird sich auf einer Art "silbernem Tablett" befinden. Da die Taliban durchaus Listen ihrer Feinde führen (vgl. UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, S. 54, Fußnote 302 zu schwarzen Listen) und offensichtlich bei der Übernahme von Städten, die sie erobern, vorbereitet sind und auch häufig genug willkürlich etwa aufgrund von Gerüchten vorgehen, ist es nicht fernliegend, dass wieder in Erinnerung kommt, wer der Kläger ist, mit wem er unter einem Dach gelebt hat, wen er zur Arbeit zu begleiten schien (zur Verfolgung von Personen, die in der Vergangenheit tätig waren: UNHCR, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 54, Fußnote 302). Es ist durch das regelmäßige Zusammenkommen der Gläubigen beim Gebet auch in Städten nicht möglich, anonym zu bleiben (vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 43 ff.). Erkundigungen und Nachforschungen, die über soziale Netzwerke im Herkunftsort eingeholt werden können, ermöglichen schnell die Feststellung der Identität. Darüber hinaus ist man als Fremder an einem Ort darauf angewiesen, Hilfe zu erhalten und muss dafür seine Identität bekanntgeben. Auch für die Beschaffung von Ausweisdokumenten, wie der Tazkira, ist eine Kontaktaufnahme zum Herkunftsort notwendig, sodass der neue Aufenthaltsort bekannt wird. Asylbewerber aus Afghanistan, die das Land aufgrund spezifischer Bedrohungen durch die Taliban verlassen haben, werden häufig auch nach einem Ortswechsel von den Taliban aufgespürt und weiter bedroht {vgl. Amnesty International, a.a.O., S. 43; Immigration and Refugee Board of Canada, Afghanistan: Whether the Taliban has the capacity to pursue individuals after they relocate to another region; their capacity to track individuals over the lang term; Taliban capacity to carry out targeted killings (2012-January 2016) [AFG1 05412.E]). Insoweit wird es für den Kläger auch nicht hilfreich sein, dass er sich in Kabul unter Regierungskontrolle befindet. Diese Kontrolle ist löchrig und wird dem Kläger nicht zum Schutz gereichen (vgl. hierzu auch Amnesty International, a.a.O., S. 40 ff; UNHCR, a.a.O., S. 52 zum Misstrauen von Regierungsbeamten gegenüber Rückkehrern).
Dem Kläger steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative (§ 3e AsylG) zur Verfügung, um bei seiner Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung der Taliban auszuweichen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger andernorts in Afghanistan vor Nachstellungen durch die Taliban sicher ist. Die Auskunftslage lässt auch nicht den gesicherten Schluss zu, dass die Furcht des Klägers vor Übergriffen unbegründet wäre. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich, wie bereits ausgeführt, durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Nach den Erkenntnissen des UNHCR ist überdies zu bedenken, dass einige Befehlshaber und bewaffnete Gruppen als Urheber von Verfolgung sowohl auf lokaler als auch auf zentraler Ebene agieren. In einigen Fällen sind sie eng mit der örtlichen Verwaltung verbunden, während sie in anderen Fällen Verbindungen zu mächtigeren und einflussreichen Akteuren einschließlich auf der zentralen Ebene verfügen und von diesen geschützt werden. Der Staat ist hierbei nicht in der Lage, Schutz vor Gefahren, die von diesen Akteuren ausgehen, zu gewährleisten. Die Verbindungen zu anderen Akteuren kann - abhängig vom Einzelfall - eine Person einer Gefahr aussetzen, die über das Einflussgebiet eines lokalen Befehlshabers hinausgeht, einschließlich in Kabul. [...]