EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 10.06.2021 - C-921/19, LH gg. die Niederlande (Asylmagazin 9/2021, S. 335 f.) - asyl.net: M29713
https://www.asyl.net/rsdb/m29713
Leitsatz:

Auch im Asylfolgeantragsverfahren keine automatische Ablehnung von Dokumenten als neue Beweismittel, auch wenn Echtheit nicht feststellbar:

1. Die Beurteilung von Beweismitteln, die zur Stützung eines Asylantrags vorgelegt werden, unterscheidet sich nicht danach, ob es sich um einen Asylerstantrag oder einen Asylfolgeantrag handelt.

2. Werden zur Begründung eines Folgeantrags Dokumente als Beweismittel vorgelegt, so dürfen diese nicht automatisch als "neues Element oder neue Erkenntnis“ zurückgewiesen werden, auch wenn die Echtheit der Dokumente nicht feststellbar oder ihre Quelle nicht objektiv überprüfbar ist. Dabei sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, mit der antragstellenden Person bei der Bewertung der für den Folgeantrag maßgeblichen Angaben zu kooperieren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Zulässigkeit, Beweismittel, neue Beweismittel, Beweis, Echtheit, Qualifikationsrichtlinie, Asylverfahrensrichtlinie, Asylantrag,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

34 Art. 40 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 sieht somit eine Bearbeitung der Folgeanträge in zwei Etappen vor. In der ersten wird zunächst die Zulässigkeit dieser Anträge geprüft, während in der zweiten dann die Anträge in der Sache geprüft werden.

35 Die erste Etappe erfolgt ebenfalls in zwei Schritten, wobei jeweils die unterschiedlichen, von diesen Bestimmungen festgelegten Zulässigkeitsvoraussetzungen geprüft werden.

36 So bestimmt Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 in einem ersten Schritt, dass für die Zwecke der gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. d dieser Richtlinie zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ein Folgeantrag zunächst daraufhin geprüft wird, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

37 Nur wenn im Vergleich zum ersten Antrag auf internationalen Schutz tatsächlich solche neuen Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, wird gemäß Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie die Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags fortgesetzt, um zu prüfen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.

38 Diese Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen folglich zwar beide erfüllt sein, damit der Folgeantrag gemäß Art. 40 Abs. 3 dieser Richtlinie weiter geprüft wird, sie unterscheiden sich jedoch und dürfen nicht miteinander vermengt werden.

39 Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Dokument, dessen Echtheit und Wahrheitsgehalt nicht ausgeschlossen werden können, ein "neues Element" oder eine "neue Erkenntnis" im Sinne von Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 darstellen kann, auch wenn seine Echtheit nicht feststellbar ist oder seine Quelle nicht objektiv überprüfbar ist.

40 Es ist festzustellen, dass, da Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem ersten Antrag auf internationalen Schutz und einem Folgeantrag unterscheidet, die Beurteilung der Tatsachen und Umstände zur Stützung dieser Anträge in beiden Fällen gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 erfolgen muss. [...]

44 Daraus folgt, dass jedes vom Antragsteller zur Stützung seines Antrags auf internationalen Schutz vorgelegte Dokument als Element dieses Antrags anzusehen ist, das gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 zu berücksichtigen ist, und dass infolgedessen die Unmöglichkeit, die Echtheit dieses Dokuments zu bestätigen, oder das Fehlen jedweder objektiv überprüfbarer Quelle für sich genommen den Ausschluss eines solchen Dokuments von der Prüfung, die die Asylbehörde gemäß Art. 31 der Richtlinie 2013/32 vornehmen muss, nicht rechtfertigen kann.

45 Was einen Folgeantrag betrifft, kann die fehlende Bestätigung der Echtheit eines Dokuments daher nicht dazu führen, von vornherein die Unzulässigkeit dieses Antrags festzustellen, ohne dass die Frage geprüft wird, ob dieses Dokument eine neue Erkenntnis oder ein neues Element darstellt und ob es gegebenenfalls erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist. [...]

53 Demzufolge muss die Asylbehörde erst im Rahmen der zweiten Etappe der Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags, wie sie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils beschrieben wurde, die Frage prüfen, ob die neuen zutage getretenen oder vom Antragsteller vorgebrachten Elemente oder Erkenntnisse geeignet sind, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass dieser nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.

54 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen jedes Dokument, das von einem Antragsteller auf internationalen Schutz zur Stützung eines Folgeantrags vorgelegt wird, automatisch nicht als "neues Element oder neue Erkenntnis" im Sinne dieser Bestimmung angesehen wird, wenn die Echtheit dieses Dokuments nicht feststellbar ist oder die Quelle eines solchen Dokuments nicht objektiv überprüfbar ist. [...]

58 Vielmehr muss, wie aus Rn. 40 des vorliegenden Urteils hervorgeht, da Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 im Hinblick auf die Natur der Elemente oder Erkenntnisse, mit denen dargetan werden kann, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, nicht zwischen einem Erst- und einem Folgeantrag unterscheidet, die Beurteilung der Tatsachen und Umstände zur Stützung dieser Anträge in beiden Fällen gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 erfolgen.

59 So rechtfertigt der Umstand, dass ein Erstantrag bereits umfassend geprüft wurde, zwar, dass die Mitgliedstaaten zunächst vorab die Zulässigkeit des Folgeantrags u. a. im Hinblick darauf prüfen, dass zur Stützung dieses Antrags neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, vorliegen. Dieser Umstand vermag es dagegen nicht zu rechtfertigen, dass die Beurteilung dieser Elemente oder Erkenntnisse im Rahmen dieser Vorprüfung nicht gemäß Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 und, wie der Generalanwalt in den Nrn. 65 und 66 seiner Schlussanträge ebenfalls festgestellt hat, gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95 durchgeführt wird.

60 Zum anderen ist es gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95 Sache des betreffenden Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag auf internationalen Schutz maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

61 Da, wie aus Rn. 44 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ein Dokument, auch wenn seine Echtheit nicht feststellbar ist oder seine Quelle nicht objektiv überprüfbar ist, ein zur Stützung des Antrags vorgelegtes Element darstellt, muss der betreffende Mitgliedstaat gemäß dieser Bestimmung dieses Dokument unter Mitwirkung des Antragstellers prüfen.

62 Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass, damit die Vorlage eines solchen Dokuments dazu führen kann, dass nach Art. 40 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 der Antrag gemäß Kapitel II in der Sache weiter geprüft wird, es nicht erforderlich ist, dass der Mitgliedstaat überzeugt ist, dass dieses neue Dokument den Folgeantrag hinreichend stützt, sondern es genügt, dass dieses Dokument erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.

63 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 40 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95 zum einen dahin auszulegen ist, dass die Beurteilung der zur Stützung eines Antrags auf internationalen Schutz vorgelegten Beweise nicht unterschiedlich sein darf je nachdem, ob es sich um einen Erstantrag oder um einen Folgeantrag handelt, und zum anderen dahin, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, mit einem Antragsteller bei der Bewertung der für seinen Folgeantrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu kooperieren, wenn dieser zur Stützung dieses Antrags Dokumente vorgelegt hat, deren Echtheit nicht feststellbar ist. [...]