VerfGH Sachsen

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Zitieren als:
VerfGH Sachsen, Beschluss vom 31.05.2021 - Vf. 16-IV-21 (HS) - asyl.net: M29718
https://www.asyl.net/rsdb/m29718
Leitsatz:

Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch unzureichende Sachaufklärung in Verfahren von in Griechenland Anerkannten:

Das VG Dresden hat das Recht des in Griechenland als Flüchtling anerkannten Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art.78 Abs.3 S.1 der Sächsischen Verfassung verletzt, da das Gericht die Annahme, dem Beschwerdeführer drohe bei einer Rückkehr nach Griechenland keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, auf veralteten Erkenntnisse gestützt und den Vortrag zu neueren Erkenntnissen unberücksichtigt gelassen hat.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss vom 08.05.2017 - 2 BvR 157/17 (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 292 f.) - asyl.net: M25069)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Erkenntnismittel, Rechtsprechung, effektiver Rechtsschutz, Grundrechte, Sachaufklärungspflicht,
Normen: SächsVerf Art. 78 Abs. 3 S. 1, EMRK Art. 3, VwGO § 86, GG Art. 19 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Auch die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hoben Wert der betroffenen Rechte aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 SächsVerf Rechnung zu tragen und die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004, BVerfGE 111, 307 [323 ff.]). Der Sachverhaltsaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO kann daher bei der Beurteilung der Aufnahmebedingungen im Abschiebezielstaat als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK auch schon im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes – verfassungsrechtliches Gleichgewicht zukommen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 – juris Rn. 16; Beschluss vom 26. Juli 2017  2 BvR 1606/17 – juris Rn. 22). Die fachgerichtliche Beurteilung solcher möglicherweise gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Aufnahmebedingungen, die nach einem strengen Maßstab (insbesondere systemische Funktionsmängel) auch hinsichtlich von Mitgliedstaaten der Europäischen Union geboten ist (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-163/17 - juris Rn. 82 ff. und C-297/17 u.a. - juris Rn. 85 ff.) muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 19; Beschluss vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 - juris Rn. 16) und eine aktuelle Gesamtwürdigung der vorliegenden Erkenntnisse beinhalten. Daraus folgt die Pflicht, die Entwicklung der Lage in dem betroffenen Zielstaat der Abschiebung unter Beobachtung zu halten und relevante neuere Erkenntnismittel zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Apri12016 - 2 BvR 273/16 - juris Rn. 11; Beschluss vom 17. März 2017 - 2 BvR 681/17 - juris Rn. 11; Beschluss vom 15. Dezember 2020 - 2 BvR 2187/20 - juris Rn. 2; Einstweilige Anordnung vom 9. Februar 2021 - 2 BvQ 8/21 - juris Rn. 7; st. Rpsr.).

Soweit entsprechende Erkenntnisse im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 20; Beschluss vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 - juris Rn. 17).

3. Diesen Anforderungen hält der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts nicht stand.

Die Bewertung des Verwaltungsgerichts, den Beschwerdeführer erwarte als anerkannter Flüchtling in Griechenland keine konventions- und richtlinienwidrige Behandlung, beruht tragend auf Erkenntnissen, die in den in Bezug genommenen Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 14. September 2020 und dem Ergänzungsbescheid des BAMF vom 6. Juli 2020 bezeichnet sind. Beide Entscheidungen - sowohl die des Verwaltungsgerichts Ansbach als auch jene des BAMF - hatten sich auf Erkenntnisse vorwiegend aus den Jahren 2018 und 2019 sowie auf verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung aus dieser Zeit gestützt, nur wenige neuere Erkenntnisse herangezogen und darauf abgestellt, dass sich anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland grundsätzlich auf eine Gleichbehandlung mit Inländern berufen könnten und Nichtregierungsorganisationen zumindest in einer ersten Übergangsphase Defizite bei der staatlichen Integration anerkannt Schutzberechtigter kompensieren und sicherstellen könnten, dass die elementaren Bedürfnisse befriedigt würden. Eine eigenständige Bewertung aktuellerer Erkenntnisse ist dem Beschluss nicht zu entnehmen.

Mit dieser Begründung verfehlt das Verwaltungsgericht die verfassungsrechtlichen Anforderungen. Allerdings kann eine Begründung durch Bezugnahme auf Entscheidungen anderer Gerichte oder des eigenen Gerichtes hinreichend sein, wenn diese ihrerseits den Begründungsanforderungen genügen; dies kann insbesondere bei im Zeitverlauf stabilen Verhältnissen der Fall sein. Der Beschwerdeführer hat sich hier indes im fachgerichtlichen Verfahren - wenn auch anfangs nur kursorisch und erst durch eine Vielzahl von Schriftsätzen konkretisiert – auf verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, in denen die maßgebliche Frage der Zumutbarkeit einer Rückführung nach Griechenland anders beurteilt wurde, sowie auf aktuelle(re) Erkenntnisse zur Situation in Griechenland, etwa aus dem Jahr 2020, berufen und zumindest auch auf deren Grundlage begründet, warum aus seiner Sicht die ernsthafte Gefahr besteht, dass er für einen längeren Zeitraum obdachlos werden könnte (vgl. insofern jüngst auch OVG NRW, Urteil vom 21. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A – juris Rn. 30 ff.; NdsOVG, Urteil vom 19. April 2021 - 10 LB 244/20 - juris Rn. 28 ff.). Diese Erkenntnisse und Entscheidungen hat das Verwaltungsgericht nicht erkennbar ausge- und bewertet. Sie hätten dem Verwaltungsgericht jedenfalls Anlass zu deren ergebnisoffener Bewertung sowie dazu geben müssen, weitere aktuelle Feststellungen dazu zu treffen, ob und wie für nach Griechenland zurückgeführte anerkannt Schutzberechtigte zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sichergestellt wird (ebenso BVerfG, Beschluss vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 24) oder erreichbar ist. Namentlich hätte erkennbar der Frage nachgegangen werden müssen, ob sich die Lebensbedingungen für schutzberechtigte Rückkehrer - auch wenn sie nicht als besonders vulnerable Personen anzusehen sind - aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie nach der hierfür heranzuziehenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entscheidungserheblich zu deren Nachteil verändert haben.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, für den Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gekommen wäre. Nicht erforderlich ist, dass ein anderes Ergebnis sich als sicher oder überwiegend wahrscheinlich aufgedrängt hätte. Sofern hinreichende Erkenntnisse in einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht zur Verfügung gestanden oder Feststellungen nicht zeitnah hätten getroffen werden können, hätte das Verwaltungsgericht jedenfalls die weitere Sachverhaltsaufklärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten und zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes – wie beantragt – gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen müssen. [...]