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VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Urteil vom 25.05.2021 - 4 A 2640/17 - asyl.net: M29727
https://www.asyl.net/rsdb/m29727-1
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für jungen erwerbsfähigen Mann ohne soziales Netzwerk im Sudan:

Die humanitäre Lage im Sudan ist in weiten Teilen des Landes äußerst kritisch. Die Versorgungslage und die wirtschaftliche Lage haben sich aufgrund der Corona-Pandemie sowie einer Flutkatastrophe in der zweiten Jahreshälfte 2020 nochmals verschlechtert. Auch ein junger, erwerbsfähiger Mann wird deshalb ohne soziales oder familiäres Netzwerk in extreme materielle Not geraten, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG begründet.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sudan, Darfur, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, wirtschaftliche Lage,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.

Nach dieser Vorschrift darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4 . November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass eine Abschiebung unzulässig ist. [...]

Bei der Prüfung, ob eine solche Situation für den Fall einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, sind auch die individuelle Umständen der betreffenden Person - wie etwa Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Volkszugehörigkeit, sozialen Verbindungen, Bildungs- und Ausbildungsstand und anderen auf dem Arbeitsmarkt nützlichen Eigenschaften - zu berücksichtigen (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.01 .2018 - A 11 S 241/17 -, juris Rn. 286; OVG Saarland, Beschl. v. 23.03.2020 - 2 A 357/19 -, juris Rn. 11; VG Stade, Urt. V. 21.07.2020 - 4 A 2524/17 -).

Hieran gemessen droht dem Kläger für den Fall einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung aufgrund der derzeitigen humanitären Verhältnisse.

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen ist die humanitäre Lage in weiten Teilen des Landes äußerst kritisch. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist von extremer Armut betroffen und kann ihren täglichen Kalorienbedarf nicht mehr aus eigener Kraft decken. Zwar wäre ein ausreichendes Nahrungsmittelangebot jedenfalls im Bereich Khartum vorhanden, jedoch fehlt den Menschen die nötige Kaufkraft (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Sudan vom 28. Juni 2020, S. 8 und 25). So stiegen die Kosten für einen Lebensmittelkorb im Februar 2021 im Vergleich zu Januar 2021 jüngst um 21 %. Dies stellt einen Preisanstieg um 206 % im Vergleich zum Februar 2020 dar (World Food Programme, Market Monitor - Sudan, Februar 2021 ). Der Treibstoffpreis ist im Oktober 2020 um 400 % angestiegen (Radio Dabanga, Sudan's transport tariffs soar following fuel price hike, 29.10.2020). Die Covid 19-Pandemie hat insgesamt zu einer Verschärfung der Situation beigetragen. Am schwierigsten ist die Lage in den Krisenregionen, wo staatliche Daseinsvorsorge kaum oder gar nicht existiert (Auswärtiges Amt, aaO, S. 25). Laut einem OCHA-Bericht (Stand: August 2020, reports.unocha.org/en/country/sudan) waren bereits vor Beginn der Pandemie 9,3 Mio. Menschen im Sudan auf humanitäre Hilfe angewiesen; inzwischen seien über 9,6 Mio. Menschen der ca. 45 Mio. Einwohner von Hunger bedroht. Durch die aufgrund der Pandemie verfügten Lockdowns sei die Wirtschaftsleistung extrem zurückgegangen und der Staat habe ungefähr 42 Prozent seiner Einnahmen verloren. In urbanen Regionen habe sich die Pandemie zudem negativ auf den großen informellen Sektor ausgewirkt und die prekäre Lage von Tagelöhnern. darunter insbesondere Frauen, verschärft, die mit Armut konfrontiert seien (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Sudan: Wirtschaftliche Lage, insbesondere von Binnenflüchtlingen und Rückkehrerinnen; Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die wirtschaftliche Lage und das Gesundheitssystem, 21. Januar 2021, S. 4). Das Bedürfnis nach humanitärer Hilfe steige weiter stark an, da das Land von mehreren Krisen gleichzeitig betroffen sei, einschließlich einer Wirtschaftskrise, anhaltenden Überschwemmungen, Gewalt- und Krankheitsausbrüchen. Die Pandemieprävention sei eine Herausforderung, da 63 % der Bevölkerung keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen und 40 % keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hätten.

Hinzu kam in der zweiten Jahreshälfte 2020 eine Flut, die als die schlimmste seit mehr als drei Jahrzehnten bzw. als Jahrhundertflut eingestuft wurde. Der Nil ist infolge heftiger, wochenlanger Regenfälle über die Ufer getreten. Fast alle 18 Bundesstaaten des Sudans und mehr als 730.000 Menschen sind von den Überschwemmungen betroffen; fast 150.000 Häuser wurden zerstört (FAZ, Sudan erlebt Jahrhundertflut, 18.09.2020, www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/sudan-der-kampf-gegen-ueberschwemmungen-16959799.html). Die OCHA geht in ihrem Sudan Situation Report vom 22. Oktober 2020 sogar von 875.000 Betroffenen aus. Besonders stark betroffen waren die Regionen Blauer Nil, Khartoum, Nord-Darfur, West-Dafur und Sennar (OCHA, Humanitarian Needs Overview Sudan, Dezember 2020, S. 14). Die sudanesische Regierung hat infolgedessen einen dreimonatigen Notstand ausgerufen und das Land zum Katastrophengebiet erklärt (ZDF vom 17.09.2020, www.zdf.de/nachrichten/panorama/sudan-ueberschwemmung-100.html). Durch die Überschwemmungen wurde auch die Verbreitung zahlreicher Krankheiten (z.B. Cholera) begünstigt. So wurden laut OCHA bis Ende September 2020 landesweit beispielsweise über 1, 1 Mio. Malaria-Fälle gemeldet - in 15 von 18 Bundesstaaten wurde das Level einer Epidemie erreicht (OCHA, Sudan Situation Report vom 22.1 0.2020, reliefweb. int/report/sudan /sudan-situationreport-22-oct-2020-enar). Mehr als 30 % der in 13 Bundesstaaten genommenen Wasserproben stellten sich als kontaminiert heraus (OCHA, Emergency Response - Floods in Sudan Situation Report, 08.10.2020, reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Situation%20Report%20-%20Sudan%20-%2028%200ct%202020.pdf). Besonders stark hatten Farmer und Viehhalter infolge vernichteter Ernten und überschwemmter Weiden und Felder sowie ertrunkener Nutztiere unter den Überschwemmungen zu leiden, zumal sich diese zuvor bereits der in Ostafrika herrschenden Heuschreckenplage ausgesetzt sahen (tagesschau.de vom 29.09.2020, Hochwasser in Afrika: „Keine Erholung zwischen den Katastrophen", www.tagesschau.de/ausland/sudan-293.html). Nach einer Schätzung wurden 26,8 % der bewirtschafteten Flächen überflutet (OCHA, Humanitarian Needs Overview Sudan, Dezember 2020, S. 11).

In Anbetracht dieser Umstände und unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Klägers geht das Gericht im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung davon aus, dass dieser bei einer Rückkehr in den Sudan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit extremer materieller Not ausgesetzt sein wird. Der Kläger ist zwar jung, gesund und arbeitsfähig. Er kann aber nicht auf ein soziales (familiäres) Netz im Sudan zurückgreifen, dass ihn - jedenfalls vorübergehend - unterstützten könnte. Sein Onkel, bei dem er seit seinem 13. Lebensjahr gelebt hat, ist verstorben. Zu dessen Frau hat er bereits seit Jahren keinen Kontakt mehr. Zu dem Rest seiner Familie bestand schon seit dem Umzug des Klägers zu seinem Onkel nur noch indirekter Kontakt. Der Kläger hat lediglich wenige Jahre die (Koran)Schule besucht und keine berufliche Ausbildung. Er wäre daher auf den informellen Sektor angewiesen, der besonders negativ von der den Auswirkungen der Pandemie betroffen ist. [...]