VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 23.06.2021 - 3 K 725/17.A - asyl.net: M29755
https://www.asyl.net/rsdb/m29755
Leitsatz:

Keine Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist wegen "Untertauchens" bei lediglich formloser Mitteilung an den zuständigen Mitgliedstaat:

1. Die Verlängerung der Dublin-Überstellungsfrist auf 18 Monate nach Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-Verordnung wegen "Untertauchens" ist nur dann möglich, wenn der ersuchende Mitgliedsstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedsstaat darüber unterrichtet, dass die betreffende Person flüchtig ist und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt. Eine ausdrückliche Mitteilung der neuen Überstellungsfrist kann auch nicht wegen einer vom Bundesamt regelmäßig geübten Verwaltungspraxis unterbleiben.

2. Die Fristenregelungen der Dublin-III-Verordnung sind individualschützend. Asylsuchende können sich auch dann auf den Ablauf von Fristen berufen, wenn der angefragte Mitgliedsstaat weiterhin aufnahmebereit ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 Jawo gg. Deutschland - Asylmagazin 5/2019, S. 196 ff. - asyl.net: M27096

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Mitteilungspflicht,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2; DVO Art. 9,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger fehlt für den von ihm geltend gemachten Ablauf der Überstellungsfrist auch nicht das für die erforderliche Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO möglicherweise verletzte subjektive Recht. Der Gerichtshof der Europäischen Union [EuGH] hat unter Geltung der Dublin III-VO betont, dass sich der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Verordnung Nr. 604/2013 nicht darauf beschränkt hat, organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern er sich vielmehr dafür entschieden hat, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtete. die Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben. und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zu gewährleisten, sodass ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriteriums geltend machen kann (vgl. EuGH, Urteile v. 07.06.2016 - Rs. C-63/15 <Ghezelbash> - und - Rs. C-155/15 <Karim>). Das Bundesverwaltungsgericht [BVerwG] hat sich der Rechtsprechung angeschlossen (vgl. BVerwG, Urteil v. 08.08.2016, 1 C 6.16, Rn. 22, juris), so dass die Fristenregelungen der Dublin III-VO, insbesondere die Wiederaufnahme- und Überstellungsfristen grundsätzlich individualschützend sind. Der EuGH hat seine Rechtsauffassung im Urteil v. 26.07.2017 (- Rs. C-670/16 <Mengesteab> -) bestätigt, wonach der Asylbewerber sich auf den Ablauf von Fristen nach der Dublin-III-VO berufen kann, selbst wenn der angefragte Mitgliedsstaat weiterhin zur Übernahme bereit ist. Ausdrücklich zu Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO hat der EuGH entschieden, dass das angerufene Gericht das Vorbringen einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, prüfen können muss, wonach diese Entscheidung unter Verletzung der Bestimmungen in Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO ergangen sei, weil der ersuchende Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung wegen des vorherigen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO festgelegten Frist von sechs Monaten bereits zum zuständigen Mitgliedstaat geworden sei (vgl. EuGH, Urteil v. 19.03.2019 -Rs. C-163/17 <Jawo> - Rn. 57, juris unter Hinweis auf Urteil v. 25.10.2017 - Rs. C-201/16 <Shiri> -).

Die Klage ist auch begründet.

Nach der im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 AsylG) ist der Bescheid vom 09.02.2017 rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig. wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin-III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Ursprünglich war die Republik Polen für die Durchführung des Asylverfahrens gem. Art. 12 Abs. 1 und 4 Dublin-III-VO zuständig. [...]

Allerdings ist die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz mit Ablauf des 07.06.2017 auf die Beklagte aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO übergegangen. [...]

Die sechsmonatige Überstellungsfrist kann nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Nach Art. 9 Abs. 2 Satz 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30.01.2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Abl. L 2014, S. 39/1 - DurchführungsVO) ist bestimmt:

"Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der Verordnung {EU) Nr. 604/2013 genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu."

Die Rechtsfrage, ob es neben der Information des ersuchten Mitgliedstaats über das Flüchtigsein auch einer ausdrücklichen Festlegung der verlängerten Überstellungsfrist bedarf, war zunächst obergerichtlich und höchstrichterlich ungeklärt. Umstritten war, ob insoweit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 DurchführungsVO die bloße Unterrichtung des ersuchten Mitgliedstaates ausreicht oder ob es mit Blick auf Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO einer ausdrücklichen oder zumindest einer stillschweigenden Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten bedarf. Mit Beschluss vom 15.03.2017 hatte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg [VGH BW], Az. A 11 S 2151/16, juris dem EuGH nach Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zur Vorabentscheidung unter anderem die Frage vorgelegt, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO dahin auszulegen ist, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die achtzehn Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ob eine Verlängerung der Sechsmonatsfrist nur in der Weise möglich ist, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen. Der Generalanwalt am EuGH kam in den Schlussanträgen vom 25.07.2018 zu dem Ergebnis, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und Art. 9 Abs. 2 DurchführungsVO dahingehend auszulegen sind, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die achtzehn Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird. Im Urteil vom 19.03.2019 kam der EuGH ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf achtzehn Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (vgl. EuGH, Urteil v. 19.03.2019, Rs. C-163/17 <Jawo>- Rn. 75 jur. Tenor Nr. 2; vgl. auch Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil v. 14.11.2019, 13a B 19.50029, Rn. 32, VGH BW. Urteil v. 29.07.2019, A 4 S 749/19, Rn. 122 jeweils juris). Letzteres hat das Bundesamt im Rahmen seiner Mitteilung an die polnischen Behörden unterlassen.

Eine ausdrückliche Mitteilung der neuen, maximal 18 Monate umfassenden Überstellungsfrist konnte auch nicht wegen einer vom Bundesamt regelmäßig, geübten Verwaltungspraxis unterbleiben. Schon nach dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO besteht kein Raum für eine von den dort für eine Fristverlängerung geregelten Modalitäten abweichende Verwaltungspraxis. Für den Fall des Flüchtigseins sieht Art. 29 .Abs. 2 Satz 2 Oublin-III-VO vor, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist auf höchstens achtzehn Monate verlängert werden kann. Ergänzend sieht Art. 9 Abs. 2 Satz 1 DurchführungsVO vor, dass ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Absatz 2 Dublin-III-VO genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Sechsmonatsfrist vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist unterrichtet. Es bedarf also sowohl der Mitteilung, dass die zu überstellende Person flüchtig ist, als auch der Bestimmung der neuen, maximal achtzehn Monate umfassenden Frist. Die von der Beklagten zum o.g. Zeitpunkt geübte Verwaltungspraxis würde im Ergebnis dazu führen, dass allein die Mitteilung des Flüchtigseins zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist auf die maximal möglichen achtzehn Monate führen würde. Dies würde aber ignorieren, dass Fassung des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO mit dem Vorliegen des Tatbestands des Flüchtigseins gerade keine ipso jure eintretende Fristverlängerung auf achtzehn Monate erfolgt, sondern diese eine konstitutive, sowohl das "Ob" als auch die Länge der Fristverlängerung umfassende ausdrückliche Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats im Einzelfall voraussetzt. Diese Entscheidung kann nicht durch eine bloße Verwaltungspraxis ersetzt werden, zumal die Fristenregelungen zugunsten der betroffenen Asylbewerber ein subjektives Recht beinhalten und auch unter diesem Gesichtspunkt eine ausdrückliche Benennung der verlängerten Überstellungsfrist aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geboten ist (vgl. BayVGH, Urteil v. 14.11.2019, a.a.O., Rn. 33 f., juris). [...]