LG Kassel

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Zitieren als:
LG Kassel, Urteil vom 19.02.2021 - 10 O 352/20 - asyl.net: M29759
https://www.asyl.net/rsdb/m29759
Leitsatz:

Schmerzensgeld wegen Freiheitsentziehung und psychischer Belastung durch unrechtmäßigen Abschiebungsversuch:

Eine Person, die zu Unrecht abgeschoben werden soll und deshalb von Vollzugsmaßnahmen (z.B. durch die Polizei) betroffen ist, hat Anspruch auf eine angemessene Entschädigung in Schmerzensgeld (hier ging es um eine Dublin-Überstellung nach Bulgarien).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Überstellungshaft, Rechtswidrigkeit, Schmerzensgeld, Freiheitsentziehung,
Normen: HSOG § 64, HSOG § 65 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

3. Dem Kläger steht gegen den Beklagten ein Schmerzensgeld in Höhe von 500,- EUR zu (§ 65 Abs. 2 HSOG).

Gemäß § 65 Abs. 2 HSOG ist bei einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit oder bei einer Freiheitsentziehung auch der Schaden, der nicht Vermögensschaden ist, angemessen auszugleichen. Bei der Bemessung des Ausgleichs sind nach § 65 Abs. 5 HSOG alle Umstände zu berücksichtigen, insbesondere Art und Vorhersehbarkeit des Schadens und ob die geschädigte Person oder ihr Vermögen durch die Maßnahme der Gefahrenabwehr- oder der Polizeibehörden geschützt worden ist. Bei der Prüfung, ob und in welcher Höhe ein Entschädigungsanspruch für die durch eine rechtswidrige Freiheitsentziehung erlittene Rechtseinbuße besteht, sind alle Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Dabei sind insbesondere die Umstände und Durchführung des Gewahrsams, die Dauer der erlittenen Haft, die Beeinträchtigung der Lebensqualität während der Haft sowie das Maß der Pflichtwidrigkeit und des Verschuldens in den Blick zu nehmen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 16. Dezember 2020 - 11 W 67/20, Rn. 13, juris). Gelangt man nach diesen Grundsätzen zu einem Entschädigungsanspruch, bietet § 7 Abs. 3 Strafrechtsentschädigungsgesetz (StrEG) bei der Bemessung der Höhe der Entschädigung eine Orientierung. Danach beträgt die Entschädigung nach der zum 08.19.2020 in Kraft getretene Änderung des § 7 Abs. 3 StrEG für jeden angefangenen Tag des rechtmäßig angeordneten Freiheitsentzuges inzwischen 75,- EUR. Da die geänderte Vorschritt des § 7 Abs. 3 StrEG nach dem Willen des Gesetzgebers ab dem Tag ihres Inkrafttretens maßgeblich ist (BT Drs 19/17035, S. 7), ist bei Bemessung des Schmerzensgeldbetrages die nunmehr gültige Fassung des StrEG heranzuziehen.

In Anlegung obiger Maßstäbe hält die Kammer vorliegend - trotz der bereits erfolgten (verwaltungs-) gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme - eine Geldentschädigung für geboten und in der tenorierten Höhe für angemessen, aber auch ausreichend, um den Kläger zu entschädigen. Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:

Im Streitfall war die Freiheitsentziehung von nicht bloß unerheblicher Dauer. Der Kläger wurde ab seiner Festnahme (1:00 Uhr) bis zum Verlassen der Gewahrsamszelle (6:00 Uhr) über einen Zeitraum von ca. 5 Stunden festgesetzt. Angesichts der erheblichen Einschränkungen, die eine Haft bedeutet, und im Hinblick auf den hohen Wert, den das Grundgesetz in Art. 2 Abs. 1 GG der Fortbewegungsfreiheit beimisst, ist es gerechtfertigt, dem Eingriff in die persönliche Freiheit bei der Bewertung der Schmerzensgeldhöhe ein besonderes Gewicht zukommen zu lassen. Ferner muss die Verletzung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG, die bereits in der rechtswidrigen Freiheitsentziehung selbst liegt, gewichtend in die gebotene Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalls einbezogen werden. Dabei ist auch die Tatsache von Bedeutung, dass gegen den Kläger die zur Vorbereitung und Durchführung einer Abschiebung erforderlichen Maßnahmen angeordnet wurden, ohne dass die Voraussetzungen dieser Maßnahmen auch nur ansatzweise erfüllt waren. Die Intensität des rechtswidrigen Grundrechtseingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG und 2 Abs. 2 S. 2 GG wurde noch dadurch verstärkt, dass die Festsetzung des Klägers durch das vorherige unberechtigte Betreten seiner Wohnung mit einem rechtswidrigen Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 GG verbunden war. Dabei kommt erschwerend und eingriffsintensivierend hinzu, dass die Wohnung zur Nachtzeit betreten wurde.

Die Kammer hat auch schmerzensgelderhöhend berücksichtigt, dass die streitgegenständlichen Maßnahmen für den Kläger - wie dieser unwidersprochen vorgetragen hat - psychisch sehr belastend waren. Der Kläger musste während der polizeilichen Maßnahme mit der ständigen Angst leben, nach Bulgarien abgeschoben zu werden. Die Intensität der psychischen Belastungssituation war insofern gesteigert, als der Kläger aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung eine besondere psychische Fragilität aufwies. Die Kammer hat zudem in Rechnung gestellt, dass das streitgegenständliche Ereignis für den Kläger auch vor dem Hintergrund seiner psychischen Erkrankung besonders einschneidend war und Langzeitwirkungen dergestalt zeitigt, dass er nachts immer wieder von streitgegenständlichen Vorfall träumt.

Andererseits ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes gleichfalls zu berücksichtigen, dass eine mit der Inhaftierung verbundene Beeinträchtigung des Erwerbs- und Berufslebens des Klägers und eine Belastung seines Rufs im Freundes- und Bekanntenkreis sowie in der Öffentlichkeit nicht feststellbar sind. Hierzu hat der Kläger auch nichts vorgetragen.

Die Art und Weise der Durchführung der Ingewahrsamnahme gab vorliegend keinen Anlass zu Beanstandungen. Sie konnte insofern auch nicht schmerzensgelderhöhend berücksichtigt werden. Dass dem Kläger während der Ingewahrsamnahme untersagt wurde, Gepäck mitzunehmen oder ihm nicht gestattet wurde, zu essen oder zu trinken, vermochte die Kammer ebenfalls nicht festzustellen. Der Kläger, informatorisch zu diesen Punkten befragt, gab in der mündlichen Verhandlung - in Widerspruch zu seinem schriftsätzlichen Vorbringen – an, dass er eine Hose und eine Jacke einpacken und mitnehmen durfte und dass ihm auf der Polizeiwache ein Glas Wasser angeboten worden sei. Ferner führte er auf Befragen aus, dass er in der Gewahrsamszelle auch eine 1,5 l-Wasserflasche und einen 50 EUR-Schein von einer Demonstrantin erhalten habe. Essen wurde dem Kläger - unstreitig - aufgrund der Nachtzeit zunächst nicht angeboten, was insoweit gerichtsbekannt üblich und auch nicht zu beanstanden ist. Da der Kläger am nächsten Morgen mitgeteilt hatte, dass ihm übel sei, wurde ihm zu diesem Zeitpunkt auch kein Essen angeboten.

Soweit der Kläger die Auffassung vertritt, bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sei anspruchserhöhend zu berücksichtigen, dass die Polizei sich vorliegend schuldhaft verhalten habe, so kann dem nicht gefolgt werden. Denn ein schuldhaftes Handeln der in Vollzugshilfe handelnden Beamten ist nicht erkennbar. In diesem Zusammenhang ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Polizeivollzugsbeamten - ebenso wie das Regierungspräsidium Kassel gemäß § 42 AsylG an die (fehlerhafte) Weisung des Bundesamtes für Migration gebunden waren. Zwar muss die ersuchte Behörde ein Amts-/Vollzugshilfeersuchen im Lichte des Gebots der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Fällen ablehnen, in denen die Amtshilfe nach dem für die ersuchte Behörde anzuwendenden Recht unzulässig ist (Heinemann in: Pautsch/Hoffmann, VwVfG, 2. Aufl. 2021, § 5 VwVfG). Allerdings rechtfertigt die bloße Rechtswidrigkeit der Hauptmaßnahme die Weigerung der ersuchten Behörde grundsätzlich nicht, weil der ersuchten Behörde diesbezüglich keine Prüfungskompetenz zukommt. Nur wenn die Rechtswidrigkeit der Hauptmaßnahme offensichtlich ist, kann die ersuchte Behörde die Amts-/Vollzugshilfeleistung verweigern (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 21. Aufl. 2020, § 5 Rn. 15; Meixner/Friedrich, HSOG, 12. Aufl. 2016, § 44 Rn. 23).

In Anlegung dieser Maßstäbe, denen sich die Kammer anschließt, kann von einem schuldhaften Pflichtverstoß der Vollzugsbeamten nicht ausgegangen werden. Denn dass der Kläger bei Umsetzung des Festnahmeersuchens am 23.04.2018 tatsächlich nicht vollziehbar ausreisepflichtig war, musste sich den Polizeibeamten jedenfalls nicht aufdrängen. Eine offensichtliche Rechtswidrigkeit lässt sich insbesondere nicht aus der unstreitigen Aushändigung und Kenntnisnahme des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Kassel vom 11.01.2017 (Aktenzeichen: 5 K 3467/16.KS. A) ableiten. Zwar hat das Verwaltungsgericht Kassel darin die aufschiebende Wirkung der gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Klage des Klägers vom 27.12.2016 angeordnet. Daraus mussten die Vollzugsbeamten jedoch nicht per se auf eine Unzulässigkeit der zu vollziehenden Abschiebemaßnahme schließen. Denn in dem - auf der Grundlage der Mitteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11.10.2017 ergangenen - Festnahme- und Transportersuchen des Regierungspräsidiums Kassel vom 03.04.2018 heißt es, dass die Abschiebungsandrohung nach Bulgarien aus dem zugestellten Bescheid seit dem 22.05.2017 vollziehbar sei. Das Schreiben stellt mithin auf die Rechtslage 4 Monate nach dem Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel ab. Dabei enthält es den eindeutigen Hinweis, der Kläger sei vollziehbar ausreisepflichtig. Anlass, an der Richtigkeit der Mitteilung des Regierungspräsidiums zu zweifeln, gab es auf der Grundlage des Beschlusses mithin nicht. Daher waren die zur materiell-rechtlichen Überprüfung der etwaigen Ausreisepflichtigkeit des Klägers nicht befugten Polizeikräfte nicht gehalten, weitere Erkundigungen - etwa bei den anwesenden Mitbewohnern oder dem Zeugen ... oder der Prozessbevollmächtigten des Klägers - einzuholen. Dies gilt umso mehr, als eine längere Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Beschlusses aufgrund der außerhalb der Wohnung des Antragstellers aufkeimenden Proteste ohnehin nicht möglich war.

Selbst wenn man davon ausginge, dass den Beamten aufgrund der Vorlage des gerichtlichen Beschlusses, der Angaben des Klägers und von dessen Mitbewohnern Zweifel in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der streitbefangenen Maßnahmen hätten aufkommen müssen, so fehlte es angesichts der Nachtzeit jedenfalls an Möglichkeiten der Polizeibeamten, die ersuchende Behörde zu kontaktieren, um sich über die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen rückzuversichern.

Nach allem hält die Kammer, um die Freiheitsentziehung des Klägers sachgerecht zu kompensieren und dem Kläger insoweit Genugtuung für das zugefügte Unrecht zu verschaffen, einen immateriellen Schadensersatzanspruch i.H.v. 500,- EUR als angemessen und ausreichend.

Dabei hat die Kammer berücksichtigt, dass § 7 Abs. 3 StrEG eine Entschädigung für einen rechtmäßig angeordneten Freiheitsentzug (75,- EUR pro angefangenem Tag) gewährt. Im vorliegenden Fall, in dem es bereits an einer Ermächtigungsgrundlage und somit an einer rechtmäßigen Anordnung des Freiheitsentzuges fehlt, hält die Kammer eine spürbare Erhöhung des Schmerzensgeldes für geboten.

Bei der Bestimmung der konkreten Höhe des Schmerzensgeldes hat sich die Kammer an Entscheidungen mit ähnlichen Fallkonstellationen orientiert. Exemplarisch ist zunächst die Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz, Beschluss vom 07. März 2018 - 1 U 1025/17, abrufbar unter Juris, zu nennen. Darin hat das OLG für die Ingewahrsamnahme einer Person über Nacht auf der Polizeidienststelle für die Dauer von ca. 13 Stunden ein Schmerzensgeld von 400 € für angemessen gehalten. Des weiteren hat sich die Kammer an dem Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 05.11.2003 - Az. 1 U 611/03, abrufbar unter Juris, orientiert. Dieser Entscheidung lag eine rechtswidrige stationäre Unterbringung einer Person nach § 15 PsychKHG RP von ca. 18-24 Stunden zugrunde. Das OLG hat diesem Fall ein Schmerzensgeld i.H.v. 500 EUR zugesprochen.

Nach allem erscheint der Kammer unter Abwägung aller maßgeblichen Zurechnungsfaktoren im vorliegenden Fall ein Schmerzensgeld von 500,- EUR als angemessen. [...]