OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 15.02.2021 - 2 L 26/20 - asyl.net: M29882
https://www.asyl.net/rsdb/m29882
Leitsatz:

Verstöße gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und der Sachaufklärungspflicht können eine Berufungszulassung nicht rechtfertigen:

"1. Soweit ein Asylsuchender beanstandet, das Verwaltungsgericht hätte nicht ohne seine persönliche Anhö­rung in einer mündlichen Verhandlung von der Unglaubhaftigkeit seiner Schilderungen vor dem Bundesamt ausgehen dürfen, rügt er der Sache nach einen Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 1 VwGO) sowie eine Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Mai 2002 - 1 B 392/01 - juris Rn. 2). Verfahrensmängel dieser Art zählen jedoch nicht zu denen, die nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) die Zulassung der Berufung rechtfertigen können, da sie in § 138 VwGO nicht aufgeführt sind. Ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO führt erst dann zu einem nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG (juris: AsylVfG 1992) i.V.m. § 138 VwGO beachtlichen Verfahrensfehler, wenn er mit einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3 VwGO) verbunden ist (Rn. 7).

2. Erklärt ein Asylsuchender durch seinen Prozessbevollmächtigten, dass er mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden ist, kann er nicht mit Erfolg rügen, das Verwaltungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es ohne seine Befragung in einer mündlichen Verhandlung nach Aktenlage entschieden habe (Rn. 8)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, mündliche Verhandlung, Anhörung, Beweisrecht, Beweiserhebung, Glaubwürdigkeit, Glaubhaftigkeit, Sachaufklärungspflicht, rechtliches Gehör,
Normen: VwGo § 96 Abs. 1, VwGO § 86 Abs. 1, VwGO § 138, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, GG § 103
Auszüge:

[...]

5 1. Soweit die Kläger vortragen, es sei nicht nachvollziehbar, weshalb das Verwaltungsgericht ihre Schilderungen zu ihrem persönlichen Verfolgungsschicksal nicht geglaubt habe, rügen sie der Sache nach eine fehlerhafte Sachverhalts- bzw. Beweiswürdigung durch die Vorinstanz. Etwaige Mängel bei der Beweiswürdigung und richterlichen Überzeugungsbildung nach § 108 Abs. 1 VwGO sind aber grundsätzlich dem materiellen Recht und nicht dem Verfahrensrecht zuzuordnen; eine Gehörsrüge kann damit nicht mit Erfolg begründet werden (BVerwG, Beschluss vom 7. Dezember 2005 - 1 B 19.05 - juris Rn. 5, m.w.N.). Eine Ausnahme hiervon kommt nur bei einer aktenwidrigen, gegen die Denkgesetze verstoßenden oder sonst von objektiver Willkür geprägten Sachverhaltswürdigung in Betracht (BVerwG, Beschluss vom 29. Oktober 2009 – 9 B 41/09 –, Rn. 24, juris). Mit ihrem Beschwerdevorbringen zeigen die Kläger nicht auf, dass die Sachverhalts- bzw. Beweiswürdigung der Vorinstanz an einem solchen Mangel leidet. [...]

7 2. Soweit die Kläger beanstanden, das Verwaltungsgericht hätte nicht ohne persönliche Anhörung der Klägerin zu 1 in einer mündlichen Verhandlung von der Unglaubhaftigkeit ihrer Schilderungen vor dem Bundesamt und im Schriftsatz ihrer früheren Prozessbevollmächtigten ausgehen dürfen, rügen sie der Sache nach einen Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 1 VwGO) sowie eine Verletzung der gerichtlichen Sachaufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. Mai 2002 - 1 B 392/01 - juris Rn. 2). Verfahrensmängel dieser Art zählen jedoch nicht zu denen, die nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG die Zulassung der Berufung rechtfertigen können, da sie in § 138 VwGO nicht aufgeführt sind (vgl. zum Aufklärungsmangel: OVG NW, Beschluss vom 30. Oktober 2020 - 6 A 4264/19.A - juris Rn. 17; zur Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme: BayVGH, Beschluss vom 5. Februar 2018 - 11 ZB 17.31802 - juris Rn. 4; SaarlOVG, Beschluss vom 16. Dezember 2011 - 3 A 264/11 - juris Rn. 71). Ein Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO führt erst dann zu einem nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 VwGO beachtlichen Verfahrensfehler, wenn er mit einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 138 Nr. 3 VwGO) verbunden ist, was immer der gesonderten Feststellung bedarf (OVG NW, Beschluss vom 24. Juni 2020 – 9 A 3758/19.A - juris Rn. 22 ff.). Eine solche Feststellung lässt sich hier nicht treffen.

8 Die Kläger können eine Gehörsverletzung wegen der nicht erfolgten Befragung der Klägerin zu 1 in einer mündlichen Verhandlung schon deshalb nicht mit Erfolg geltend machen, weil diesbezüglich ein Rügeverlust eingetreten ist. Voraussetzung einer begründeten Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs ist nämlich die (erfolglose) vorherige Ausschöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneten und nach Lage der Dinge tauglichen Möglichkeiten, sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 4. August 2008 - 1 B 3.08 - juris Rn. 9 m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 22. Juni 2017 - 2 WD 6.17 - juris Rn. 14; m.w.N.; OVG NW, Beschluss vom 20. Dezember 2018 - 9 A 3148/17.A - juris Rn. 30). Dies haben die Kläger nicht getan. Ihre frühere Prozessbevollmächtigte hat mit Schriftsatz vom 30. Januar 2020 (Bl. 52 der VG-Akte) gemäß § 101 Abs. 2 VwGO erklärt, dass sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden sei, und damit auch auf die Möglichkeit einer persönlichen Befragung der Klägerin zu 1 verzichtet. In einem solchen Fall bleibt eine Gehörsrüge ohne Erfolg (vgl. OVG NW, Beschluss vom 14. Mai 2020 - 19 A 1650/19.A - juris Rn. 9 ff.). Die Erklärung des Verzichts auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedeutet zwar nicht zugleich den Verzicht auf die Gewährung rechtlichen Gehörs zu solchen, die Entscheidung tragenden Umständen, die bislang nach übereinstimmender Auffassung aller Verfahrensbeteiligter nicht entscheidungserheblich waren (BVerfG, Beschluss vom 26. Mai 2020 - 2 BvR 2699/17 - juris Rn. 3). Eine solche Fallkonstellation liegt hier aber nicht vor. Bereits das Bundesamt war in seinem Bescheid vom 6. November 2019 davon ausgegangen, dass das Vorbringen der Klägerin zu 1 unglaubhaft sei. Von einer willkürlichen Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts mit dem Ziel, die Kläger in ihren prozessualen Möglichkeiten zu beschneiden, kann vor diesem Hintergrund ebenfalls keine Rede sein.

9 3. Eine Verletzung rechtlichen Gehörs haben die Kläger auch nicht in Bezug auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG dargelegt.

10 Der Anspruch auf rechtliches Gehör verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass das Gericht dieser Pflicht nicht nachgekommen ist. Die Gerichte sind nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in der Begründung der Entscheidung ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen, um einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festzustellen, im Einzelfall besondere Umstände deutlich ergeben, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. [...]