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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 30.03.2021 - 1 C 41.20 (Asylmagazin 9/2021, S. 336 ff.) - asyl.net: M29949
https://www.asyl.net/rsdb/m29949
Leitsatz:

Rechtsfolgen einer Unterlassung der persönlichen Anhörung im behördlichen Asylverfahren für das asylgerichtliche Verfahren:

1. Hat es das Bundesamt im behördlichen Asylverfahren unterlassen, die betroffene Person persönlich anzuhören, darf das Gericht im Klageverfahren die Anhörung selbst unter Wahrung  der gebotenen Vertraulichkeit nachholen, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Gelegenheit belassen, die unterlassene Anhörung nachzuholen oder den angefochtenen Unzulässigkeitsbescheid aufheben, damit das Bundesamt nach fehlerfreiem Verfahren eine neuerliche Entscheidung über den Asylantrag trifft.

2. Dabei muss das Gericht die Vertraulichkeit nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich gewährleisten. Die genauen Umstände sind in der Sitzungs- bzw. Terminsniederschrift ausdrücklich festzuhalten.

3. Bei der Betätigung seines weiten Verfahrensermessens hat das Gericht die konkreten Umstände des Einzelfalles, insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und das Ausmaß der erforderlichen Sachverhaltsaufklärung zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unzulässigkeit, Asylverfahren, Anhörung, Umdeutung, Verfahrensfehler, Ermessen, Verfahrensökonomie, Beschleunigungsgebot, Unzulässigkeit, Vertraulichkeit, Öffentllichkeit,
Normen: EATRR Art. 2, GR-Charta Art. 4, RL 2013/32/EU Art. 14 Abs. 1 S. 1, RL 2013/32/EU Art. 15, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 34 Abs. 1, AsylG § 24 Abs. 1 S. 3, AsylG § 26a Abs. 1 S. 1 (a.F.), AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 29 Abs. 2 S. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylG § 37 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, GVG § 169 Abs. 1 S. 1, GVG § 171b Abs. 1 S. 1, GVG § 171b Abs. 3 S. 1, GVG § 171b Abs. 4, VwGO § 42 Abs. 1 Alt. 1, VwGO § 55, VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3, VwVfG Abs. 2, VwVfG § 46, VwVfG § 47 Abs. 1
Auszüge:

[...]

17 c) Einer entsprechenden Umdeutung in eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht hier indes entgegen, dass die nach § 47 Abs. 1 VwVfG a.E. zu beachtenden verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht erfüllt sind (aa) und dieser einer Heilung nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 VwVfG auch zwischenzeitlich nicht zugeführte (bb) Verfahrensmangel nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich ist (cc).

18 aa) Gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 1 RL 2013/32/EU ist dem Antragsteller, bevor die Asylbehörde eine Entscheidung trifft, Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz durch einen nach nationalem Recht für die Durchführung einer solchen Anhörung zuständigen Bediensteten zu geben. Nach Art. 34 Abs. 1 RL 2013/32/EU ist dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, sich zu der Anwendung der Gründe nach Art. 33 RL 2013/32/EU in seinem besonderen Fall zu äußern, bevor die Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet. Hierzu führen die Mitgliedstaaten im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung eine persönliche Anhörung durch. In Umsetzung dieser Regelung sieht § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG vor, dass das Bundesamt den Ausländer zu den Gründen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b bis Nr. 4 AsylG persönlich anhört, bevor es über die Zulässigkeit eines Asylantrags entscheidet (BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 - 1 C 4.19 - NVwZ 2020, 1839 Rn. 32). Entgegen § 29 Abs. 2 Satz 1 AsylG wurde der Kläger hier zu dem Ergehen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG im Verwaltungsverfahren nicht persönlich angehört.

19 bb) Dieser Verfahrensfehler ist nicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 VwVfG im asylgerichtlichen Verfahren bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz geheilt worden. Eine solche Heilung kann nach nationalem Recht - auch während des gerichtlichen Verfahrens - nur durch die Behörde selbst erfolgen; diese muss die Anhörung nachträglich durchführen und ihre getroffene Entscheidung im Lichte des Ergebnisses der Anhörung kritisch überdenken (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015 - 7 C 5.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015: 171215U7C5.14.0] - BVerwGE 153, 367 Rn. 17 m.w.N.). Dass dies geschehen wäre, ist weder vom Berufungsgericht festgestellt noch von der Beklagten geltend gemacht worden. Allein die Gelegenheit zum schriftlichen Vortrag der Schutzgründe im asylgerichtlichen Verfahren oder die Pflicht der Asylbehörde und des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, vermögen die Verletzung der Pflicht zur persönlichen Anhörung nicht zu heilen (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17 [ECLI:EU:C:2020:579], Addis - Rn. 71).

20 cc) Das Unterbleiben der persönlichen Anhörung des Klägers ist auch nicht nach § 46 VwVfG unbeachtlich. Zwar ist die Norm dem Grunde nach anwendbar ((1)) und sind ihre Voraussetzungen erfüllt ((2)); ihre Anwendung im vorliegenden Verfahren stünde indes mit Unionsrecht nicht im Einklang ((3).

[...]

22 (2) Nach § 46 VwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 44 VwVfG nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Diese Voraussetzung - offensichtlich fehlende Kausalität des Verfahrensfehlers für die Sachentscheidung - kann nach der Auslegung der einschlägigen unionsrechtlichen Vorgaben durch den Gerichtshof der Europäischen Union hier nicht festgestellt werden.

23 (a) Zwar ist bei gebundenen Entscheidungen, zu denen auch die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zählt, nach nationalem Recht grundsätzlich davon auszugehen, dass sich ein Anhörungsmangel im Ergebnis nicht auswirken kann (vgl. BVerwG, Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 27. Juni 2017 - 1 C 26.16 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 91 Rn. 42). Der nach der Richtlinie 2013/32/EU vorgeschriebenen persönlichen Anhörung durch die Behörde darf jedoch in Umsetzung der vom Senat eingeholten Vorabentscheidung des Gerichtshofs die potentielle Ergebnisrelevanz nicht abgesprochen werden (vgl. zum teilweise höheren Eigenwert des Verfahrensrechts im Unionsrecht auch Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Aufl. 2019, § 46 Rn. 84 f.). Dies hat der Gerichtshof im Einzelnen wie folgt begründet und konkretisiert:

24 Unionsrechtlich darf von einem im nationalen Recht geregelten Ausschluss des Aufhebungsanspruchs wegen Unbeachtlichkeit nur Gebrauch gemacht werden, wenn und soweit dies die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte - hier des Rechts auf persönliche Anhörung - nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 57).

25 Während § 46 VwVfG nicht im Konflikt mit dem Äquivalenzgrundsatz steht, da er auch in vergleichbaren allein nach nationalem Recht zu beurteilenden Fallgestaltungen Anwendung findet (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 58), ist für die Beurteilung der Vereinbarkeit der Anwendung des § 46 VwVfG mit dem Effektivitätsgrundsatz die grundlegende Bedeutung zu beachten, die die Richtliniengeber der persönlichen Anhörung durch die mit besonderen Mitteln und Fachpersonal ausgestatteten Asylbehörde, aber auch der Wahrung der diesbezüglichen spezifischen Bedingungen und Garantien des Art. 15 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU für ein faires und rechtsstaatliches Asylverfahren beimessen (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 59, 61 und 64 ff.). Mit der praktischen Wirksamkeit der Art. 14, 15 und 34 RL 2013/32/EU wäre es unvereinbar, wenn eine von der Asylbehörde unter Verletzung der Pflicht, dem Ausländer Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung zu seinem Antrag auf internationalen Schutz zu geben, erlassene Entscheidung im asylgerichtlichen Verfahren bestätigt werden könnte, ohne dass das Verwaltungsgericht den Antragsteller unter Wahrung der im Einzelfall anwendbaren grundlegenden Bedingungen und Garantien zu seinem Schutzantrag anhört (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 68). Die Anwendung des § 46 VwVfG ist daher nur mit Art. 14 und Art. 34 RL 2013/32/EU vereinbar, sofern dem Ausländer im asylgerichtlichen Verfahren in einer die grundlegenden Bedingungen und Garantien im Sinne des Art. 15 RL 2013/32/EU wahrenden persönlichen Anhörung Gelegenheit gegeben worden ist, sämtliche gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen, und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 74). Gelangt das Gericht zu der Auffassung, dass dem Ausländer diese Gelegenheit im asylgerichtlichen Verfahren nicht garantiert worden ist oder werden kann, hat es die Unzulässigkeitsentscheidung aufzuheben (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 73). Die Fragen, welche der grundlegenden Bedingungen und Garantien des Art. 15 RL 2013/32/EU auf einen Ausländer anzuwenden sind (EuGH, Urteil vom 16. Juli 2020 - C-517/17, Addis - Rn. 67 f.) und ob diese beachtet wurden, sind im Lichte einer Würdigung sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalles zu beantworten.

26 (b) Es ist in das weite, nur eingeschränkt nachprüfbare Verfahrensermessen des Tatsachengerichts gestellt, ob es entweder dem Bundesamt innerhalb des asylgerichtlichen Verfahrens aufgibt, den Kläger persönlich anzuhören, eine Entscheidung über die Aufrechterhaltung der angegriffenen Entscheidung zu treffen und diese in das Verfahren einzuführen, oder die persönliche Anhörung des Klägers selbst nachholt oder den angegriffenen Bescheid des Bundesamts aufhebt und dem Bundesamt dadurch Gelegenheit gibt, nach Durchführung einer persönlichen Anhörung im Verwaltungsverfahren eine neuerliche Entscheidung über den Asylantrag zu treffen. Bei der pflichtgemäßen Ausübung seines Ermessens hat das Gericht die im Asylverfahren geltende Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime wie auch die Verfahrensökonomie in den Blick zu nehmen und insbesondere die bisherige Verfahrensdauer, aber auch einen gegebenenfalls zu erwartenden gesteigerten Sachaufklärungsbedarf zu berücksichtigen.

27 Übt das Gericht sein Ermessen dahingehend aus, die persönliche Anhörung des Klägers selbst vorzunehmen, so hat es diese Anhörung insbesondere gemäß Art. 15 Abs. 2 RL 2013/32/EU unter Bedingungen durchzuführen, die eine angemessene Vertraulichkeit nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich gewährleisten. Diese angemessene Vertraulichkeit ist gewährleistet, wenn die persönliche Anhörung im Rahmen sei es eines der mündlichen Verhandlung vorausgehenden Erörterungstermins im Sinne des § 87 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO, sei es einer vor der mündlichen Verhandlung durchgeführten Beweiserhebung durch Vernehmung des beteiligten Klägers durch den beauftragten Richter nach § 96 Abs. 2 VwGO (vgl. zum Einzelrichter Schübel-Pfister, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Aufl. 2019, § 96 Rn. 2; Lang, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 96 Rn. 11) vorgenommen wird. Diese Termine sind nicht öffentlich, da der Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens gemäß § 55 VwGO i.V.m. § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG nur für die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht gilt (BVerwG, Beschluss vom 8. September 1988 - 9 CB 38.88 - Buchholz 301 § 133 VwGO Nr. 82 S. 21). Die angemessene Vertraulichkeit ist aber auch dann gewahrt, wenn das Gericht die Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung ausschließt. § 55 VwGO i.V.m. § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG stellt diesen Ausschluss in das Ermessen des Gerichts, soweit Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich eines Prozessbeteiligten konkret absehbar (BGH, Urteil vom 18. September 1981 - 2 StR 370/81 - NJW 1982, 59) zur Sprache kommen, deren öffentliche Erörterung schutzwürdige Interessen verletzen würde. Ein schutzwürdiges Diskretionsinteresse ist etwa anzuerkennen bei Angelegenheiten aus dem privaten Lebensbereich, die außenstehenden Dritten nicht ohne Weiteres zugänglich sind und durch deren öffentliche Erörterung überwiegende schutzwürdige Interessen des Klägers verletzt würden (vgl. BGH, Urteil vom 18. September 1981 - 2 StR 370/81 - NJW 1982, 59). Dazu gehören insbesondere das Familien-, Beziehungs- und Sexualleben, der Gesundheitszustand sowie weltanschauliche, religiöse und politische Einstellungen, mithin Umstände, die unbeteiligten Dritten nicht ohne Weiteres zugänglich sind und Schutz vor dem Einblick Außenstehender verdienen (Allgayer, in: Graf, BeckOK GVG, Stand: 15. Februar 2021, § 171b Rn. 2). [...]