LG Kassel

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Zitieren als:
LG Kassel, Beschluss vom 25.08.2021 - 3 T 264/21 - asyl.net: M29989
https://www.asyl.net/rsdb/m29989
Leitsatz:

Verfahrenskostenhilfe auch ohne vollständige Erklärung zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen:

1. Nach § 427 FamFG kann das Gericht durch eine einstweilige Anordnung die vorläufige Freiheitsentziehung anordnen, wenn die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung noch nicht abschließend festgestellt werden können, jedoch eine vorläufige Regelung benötigt wird.

2. Steht wie vorliegend der Flugtermin für die Abschiebung nach Annahme der Ausländerbehörde zu "99%" fest, so ist dies für eine im Hauptsacheverfahren notwendige Prognose der erforderlichen Dauer der Haft sowie der Durchführbarkeit der Abschiebung ausreichend. Die erlassene einstweilige Anordnung ist somit rechtswidrig, da eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren hätte ergehen können.

3. Zur Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe ist nicht zwingend eine nach erfolgter Abschiebung aktualisierte vollständige Erklärung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorzulegen (entgegen BGH, Beschluss vom 14.10.2010 - V ZB 214/10 - asyl.net: M17873). Es ist ausreichend, wenn sich die Bedürftigkeit aus den Umständen des Einzelfalls ergibt (vorliegend bejaht für einen Chemielehrer aus Äthiopien, da das durchschnittliche Monatsgehalt eines Lehrers in Äthiopien 177,94 € entspricht).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, einstweilige Anordnung, Hauptsacheentscheidung, Prozesskostenhilfe, Verfahrenskostenhilfe, Prognose, Beschwerde, Bedürftigkeit, Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse,
Normen: FamFG § 62 Abs. 2 Nr. 1, FamFG § 427 Abs. 1 S. 1, ZPO § 114, FamFG § 417 Abs. 2, FamFG § 76 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

b) Im Übrigen lagen auch die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht vor.

i. Das Gericht kann durch einstweilige Anordnung eine vorläufige Freiheitsentziehung anordnen, wenn dringende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Voraussetzungen für die Anordnung einer Freiheitsentziehung gegeben sind und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht, § 427 Abs. 1 Satz 1 FamFG. Die Bestimmung erfasst Sachverhalte, in denen die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung zwar noch nicht abschließend festgestellt werden können, vorab aber schon sofort eine vorläufige Regelung benötigt wird (MüKoFamFG/Wendtland, 3. Aufl. 2019, FamFG § 427 Rn. 2).

ii. Der Auffassung des Amtsgerichts, dass mangels abschließender Klärung der Rückführungsmodalitäten noch nicht in der Hauptsache entschieden werden könne, tritt die Kammer nicht bei. Die antragstellende Behörde war am 21.04.2021 durchaus in der Lage, die gemäß § 417 Abs. 2 Nr. 4 und 5 FamFG notwendigen Angaben zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung sowie zu den Voraussetzungen und der Durchführung der Zurückschiebung zu machen.

Der Flugtermin stand nämlich schon "zu 99 %" fest. Der Beschwerdeführer weist zu Recht darauf hin, dass dies auch für eine im Hauptsacheverfahren erforderliche Prognose der erforderlichen Dauer sowie der Durchführbarkeit der Abschiebung allemal genügt.

Selbst wenn dies anders wäre, hätte eine einstweilige Anordnung nicht für sechs Wochen, sondern allenfalls für wenige Tage - nämlich bis zum Erhalt einer hinreichenden Rückantwort - erfolgen dürfen (vgl. LG Frankfurt am Main, Beschl. v. 02.12.2019 - 2-29 T 142/19; Bl. 107 ff. d.A.). Damit war auch am 21.04.2021 innerhalb weniger Tage zu rechnen, tatsächlich wurde der Flugtermin vom 31.05.2021 bereits am 23.04.2021 durch die Bundespolizei endgültig bestätigt (vgl. BI. 499 ff. der Beiakte).

4. Wegen des Erfolgs der Beschwerde war dem Beschwerdeführer Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten gemäß § 76 Abs. 1, 78 Abs. 2 und Abs. 3 FamFG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO zu bewilligen. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer die vorgelegte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vollständig ausgefüllt und keine Angaben zu seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gemacht hat.

Der Beschwerdeführer wurde mittlerweile nach Äthiopien abgeschoben. Aus dem Urteil des Verwaltungsgerichts Kassel vom 11.02.2019 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer vor seiner Einreise in Deutschland in seinem Heimatland als Chemielehrer tätig war. Das durchschnittliche Monatsgehalt eines Lehrers in Äthiopien beträgt nach Internetrecherchen der Kammer 9.440 äthiopische Birr (= 177,94 €). Die Kammer hat daher keine Zweifel, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe bei dem Beschwerdeführer vorliegen. [...]