VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 08.09.2021 - 32 L 96/21 A - asyl.net: M30010
https://www.asyl.net/rsdb/m30010
Leitsatz:

Eilrechtsschutz für Frau aus Côte d'Ivoire und ihre Tochter gegen Ablehnung als offensichtlich unbegründet:

1. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der in Deutschland geborenen und acht Monate alten Antragstellerin zu 2 in Côte d'Ivoire oder Mali eine Genitalverstümmelung und somit flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung droht.

2. Aufgrund der engen Mutter-Kind-Bindung ist es nicht ausgeschlossen, dass die Genitalverstümmelung einer Tochter gegen den Willen der Mutter auch für die Mutter eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 AsylG darstellt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Mali, Côte d’Ivoire, Genitalverstümmelung, Mädchen, geschlechtsspezifische Verfolgung, offensichtlich unbegründet, Suspensiveffekt, Mutter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, AsylG § 30 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach den Ausführungen der Antragstellerin zu 1) hatte sie im Alter von 14 Jahren in ihrer Heimat ein Mädchen zur Welt gebracht, das gegen ihren Willen von Mitgliedern ihrer Großfamilie genitalverstümmelt wurde und an einer daraus folgenden Infektion kurze Zeit später starb. Nunmehr hat die Antragstellerin zu 1) in Deutschland ein weiteres Mädchen, die Antragstellerin zu 2), zur Welt gebracht. Auch wenn der Antragstellerin zu 2) mit dem sie betreffenden Bescheid vom 20. Mai 2021 die Abschiebung nach Mali angedroht wurde, so ist für die Entscheidung über die hiesige Entscheidung betreffend die Antragstellerin zu 1) zu unterstellen, dass die Antragstellerinnen gemeinsam in die Elfenbeinküste abgeschoben werden. Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen, ist nämlich eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen. Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt, enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen (BVerwG, Urteil vom 04. Juli 2019 - 1 C 45.18 - BVerwGE 166, 113-125, juris Rn. 16 f. m.w.N. aus der Rspr. des Gerichts).

Der Anhörung der Antragstellerin zu 1) vor dem Bundesamt am 22. April 2021 lässt sich nicht hinreichend sicher entnehmen, dass die Antragstellerin bei einer Rückkehr zu ihrer Familie in die Elfenbeinküste in der Lage wäre, ihre Tochter vor einer Genitalverstümmelung zu bewahren.

Die weibliche Genitalverstümmelung ist in der Elfenbeinküste gesetzlich zwar verboten, aber im Land weit verbreitet. In einigen Landesteilen, insbesondere den muslimisch geprägten, sind über 70% aller Mädchen und Frauen beschnitten, im landesweiten Durchschnitt ist die Altersgruppe der 15-45-Jährigen mit 32 Prozent betroffen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Côte d'Ivoire, Stand Juni 2020, 09.10.2020, 11.1.8.1. - Genitalverstümmelungen). Trotz vermehrter Schutzbemühungen staatlicherseits werden diese Angebote vielfach von Opfern und deren Angehörigen nicht wahrgenommen, da das Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden schwach ausgeprägt sei und außerdem der soziale Druck beziehungsweise die Loyalität innerhalb der Familie oder der Gemeinschaft ein Einschreiten verhindern (vgl. VG Gera. Urteil vom 12. Januar 2021 - 6 K 1140/19 Ge - juris, Entscheidungsabdruck S. 8 ff.). [...]

Zwar beträfe eine Genitalverstümmelung zunächst nur die Antragstellerin zu 2) als Tochter der Antragstellerin zu 1) und nicht sie selbst, da die Antragstellerin zu 1) bereits als Kind beschnitten wurde und nach eigenen Angaben eine Wiederholung der Prozedur auch nach den Riten in der Elfenbeinküste nicht zu erwarten sei. Aufgrund der engen Mutter-Kind-Bindung und insbesondere des Umstandes, dass die Antragstellerin zu 1) ihren Angaben zufolge bereits eine Tochter durch die Beschneidungspraxis verloren hat, ist es jedoch nicht von vornherein von der Hand zu weisen, dass eine Genitalverstümmelung der Antragstellerin zu 2) für die Antragstellerin zu 1) eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2, Alt. 2 AsylG darstellen könnte (vgl. hierzu auch bereits VG Berlin, Beschluss vom 4. März 2021 - VG 32 L 13/21 A - Entscheidungsabdruck Seite 5).

Vor diesem Hintergrund kann im vorliegenden Fall allein anhand der Aktenlage und der zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zum jetzigen Zeitpunkt nicht festgestellt werden, dass an der Richtigkeit des von dem Bundesamt getroffenen Offensichtlichkeitsausspruchs vernünftigerweise keine Zweifel bestehen. Die offene Frage, ob der Antragstellerin im Falle ihrer Rückkehr nach Mali tatsächlich mit beachtlicher  Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG droht, weil es ihr nicht möglich ist, eine Genitalverstümmelung ihrer Tochter zu verhindern, ist im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes im Hauptsacheverfahren zu klären. [...]

Das Gericht sieht für den Fall der Abschiebung der Antragstellerin zu 2) nach Mali für sie ein gewisses Risiko einer weiblichen Genitalverstümmelung bestehen, dass jedenfalls einer Antragsablehnung als offensichtlich unbegründet entgegensteht und sich auch einer belastbaren Klärung im Eilrechtsschutzverfahren verschließt. Dieses nicht von der Hand zu weisende Risiko speist sich zum einen aus der gegenüber der Elfenbeinküste noch einmal deutlich erhöhten Prävalenz der weiblichen Genitalverstümmelung in Mali von 88,6% in der Altersgruppe der 15-49-Jährigen - unter Außerachtlassung der Region Kidal -, wie sie sich aus dem mit der Antragsschrift vom 1. Juni 2021 in Bezug genommenen Bericht der Nichtregierungsorganisation 28TooMany (https://www.28toomany.org/country/mali/) ergibt. Jeweils etwa 75% der Männer und Frauen in dieser Altersklasse sind dort der Auffassung, dass die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung beibehalten werden sollte. Die Antragsgegnerin hat auch keine Anhaltspunkte aufgezeigt, die daran zu zweifeln Anlass gebieten. In der Altersgruppe der 0-14-jährigen Mädchen betrug die Prävalenz 76%, bei steigender Tendenz (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Mali, Stand: März 2021, 07.04.2021, 11.1.8.1. - Genitalverstümmelungen). Anders als in der Elfenbeinküste ist die weibliche Beschneidung in Mali auch nicht einmal kriminalisiert (Auswärtiges Amt, a.a.O.). Auch wenn sich die Eltern der Antragstellerin zu 2) gegen ihre Beschneidung aussprechen, so sieht es das Gericht nicht als von vornherein hinreichend ausgeschlossen an, dass sie die Antragstellerin zu 2) für den hypothetischen Fall einer gemeinsamen Abschiebung der Kernfamilie nach Mali dauerhaft davor werden bewahren können. Bei der Antragstellerin zu 1) als Mutter handelt es sich um eine derzeit nur eingeschränkt arbeitsfähige in Mali gänzlich Ortsfremde, da sie aus der Elfenbeinküste stammt. Nach eigenen Angaben hat der Vater der Antragstellerin zu 2) Mali vor zwölf Jahren verlassen, ist Analphabet und von seiner dort noch lebenden Familie verstoßen worden. Es ist bei summarischer Prüfung der Sachlage nichts dafür ersichtlich, dass die Kleinfamilie kurz- und mittelfristig vor Ort auf ein stabiles soziales Netzwerk oder eine belastbare Existenzsicherungsmöglichkeit zurückgreifen könnte, die für den in Mali angesichts der oben genannten Prävalenz nicht auszuschließenden sozialen Druck hin zu einer Beschneidung der Antragstellerin zu 2) ausreichend Selbstbehauptung und Widerstand ermöglichte. [...]