VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 07.06.2021 - 5 K 2326/19 - asyl.net: M30012
https://www.asyl.net/rsdb/m30012
Leitsatz:

Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer für Eritreer mit subsidiärem Schutz:

1. Es ist nicht zumutbar, sich zur Erlangung eines eritreischen Nationalpasses der Verpflichtung der sogenannten "Disapora-Steuer" in Höhe von 2% des Einkommens zu unterwerfen.

2. Die Erhebung der Steuer erfolgt willkürlich. Von subsidiär Schutzberechtigten kann nicht verlangt werden, die Umstände im Heimatland, vor denen sie geflohen sind, derart zu unterstützen.

3. Aufgrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzes ist entsprechend Art. 25 Abs. 2 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU), wonach bei Unmöglichkeit der Erlangung nationaler Pässe Reisedokumente auszustellen sind, das Ermessen der Behörde zur Ausstellung eines Reiseausweises nach § 5 Abs. 1 AufenthV auf Null reduziert.

(Leitsätze der Redaktion; entgegen OVG Niedersachsen, Urteil vom 18.03.2021 - 8 LB 97/20 (Asylmagazin 9/2021, S. 346 ff.) - asyl.net: M29586; entgegen VG Saarland, Urteil vom 29.09.2021 - 6 K 285/19 - asyl.net: M30154)

Schlagwörter: Eritrea, Reiseausweis für Ausländer, Passbeschaffung, subsidiärer Schutz,
Normen: AufenthV § 5 Abs. 1, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 3, AufenthV § 5 Abs. 2 Nr. 4, RL 2011/95/EU Art. 25 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist die Beschaffung eines eritreischen Reiseausweises unzumutbar. [...]

Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses des Heimatstaates zu bemühen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die einen Ausnahmefall begründenden Umstände sind vom Ausländer darzulegen und nachzuweisen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 9. November 2010 - 18 A 222/09 -, n.v.; Beschluss vom 17. Mai 2016 - 18 A 951/15 -, juris Rn. 3 - 4; Nieders. OVG, Beschlüsse vom 7. Juni 2012 - 8 PA 65/12 -, juris Rn. 7 und vom 11. April 2012 - 8 ME 224/11 -, juris Rn. 4).

Eine generelle Unzumutbarkeit einer Vorsprache bei der Auslandsvertretung zum Zwecke der Passbeschaffung folgt weder aus der Stellung als subsidiär Schutzberechtigter für sich genommen noch aus § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 17. Mai 2016 - 18 A 951/15-, juris; BayVGH, Beschluss vom 17. Oktober 2018 - 19 ZB 15.428 -, juris Rn. 4).

Vielmehr sind die Anforderungen an die Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Passerlangung unter Berücksichtigung der besonderen Verfolgungs- bzw. Gefährdungssituation des Schutzberechtigten nach den Umständen des Einzelfalls zu stellen. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, ob ihnen die Vorsprache im Konsulat ihres Herkunftsstaates zwecks Beschaffung eines Nationalpasses zumutbar ist, oder ob ihnen wegen Unzumutbarkeit gerade dieser Handlung durch die Ausländerbehörde ein Reiseausweis für Ausländer auszustellen ist (vgl. Sender in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 3 AufenthG, Rn. 16).

Nicht erst dann, wenn der Betroffene die Rechtsstellung eines Flüchtlings und damit gem. Art. 28 GFK einen Anspruch auf einen Konventionspass (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 AufenthV) hat, sondern auch, wenn die verfolgungsrechtliche Situation des subsidiär Schutzberechtigten bei einer wertenden Betrachtung im materiellen Kern und vom Ergebnis her mit der eines Flüchtlings vergleichbar ist, ist von einer Unzumutbarkeit der Vorsprache bei der heimischen Botschaft auszugehen (VG Köln, Urt. v. 04.12.2019 - 5 K 7317/18 -, juris Rn. 31 f.; vgl. BayVGH, Urteil vom 18. Januar 2011 - 19 B 10.2157 -, juris Rn. 31),

Daneben kann sich die Unzumutbarkeit der Passerlangung aber auch aus den Bedingungen ergeben, die der Herkunftsstaat an die Ausstellung des Passes knüpft. [...]

Dem Kläger ist zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls nicht zumutbar, sich zur Erlangung eines Nationalpasses der Verpflichtung zur Zahlung der sogenannten "Diaspora-Steuer" in Höhe von 2% des Einkommens zu unterwerfen (vgl. VG Hannover, Urteil vom 20.05.2020 - 12 A 5005/18, juris Rdnr. 32, welches die Unzumutbarkeit letztlich noch offenlässt. a.A. VG Gießen, Urteil vom 28.07.2016 - 6 K 3108/15.GI, welches allerdings nur darauf abstellt, dass die Erhebung dieser Steuer als solche nicht ersichtlich gegen völkerrechtliche Regeln oder gegen deutsches Recht verstoßen würde, ohne sich dabei mit der kurz zuvor ergangenen Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10.03.2016 zur Lage in Eritrea (2016/2568(RSP)) (dazu noch unten) auseinanderzusetzen).

Von der Entrichtung dieser Steuer machen die eritreischen Behörden aber die Erteilung konsularischer Leistungen, darunter auch die Ausstellung eines Nationalpasses, abhängig (so Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea vom 09.12.2020, aktualisierte Fassung vom 25.01.2021, S. 27 (vgl. auch Schweizerische Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment EJPD, Staatssekretariat für Migration SEM, vom 21.01.2021: Focus Eritrea, Identitäts- und Zivilstandsdokumente, S. 32 f., wonach bei Aufenthalt nur des Ehegatten des Antragstellers im Ausland sogar dessen Erfüllung der Steuerpflicht nachgewiesen werden muss).

Insoweit ist es unbeachtlich, dass die eritreische Botschaft gegenüber der Beklagten das Bestehen dieser Verpflichtung nicht erwähnt hat. Grund hierfür mag auch der Ausgangspunkt der konkret für die Ausstellung eines Passes erforderlichen Formalitäten sein, zumal die Steuerpflicht auch ungeachtet der Beantragung eines Passes besteht.

Zwar gehört auch die Entrichtung einer Steuer grundsätzlich zu den staatsbürgerlichen Pflichten eines Ausländers, die zu erfüllen ihm zur Erlangung eines Nationalpasses zumutbar ist. Insoweit ist grundsätzlich auch eine Entlastung des Ausländers von der in Deutschland zu entrichtenden Steuer vorgesehen (vgl. beispielsweise § 34c Abs. 2 oder 3 EStG).

Die Zumutbarkeit der vorrangigen Erfüllung einer ausländischen Steuerpflicht muss ihre Grenze allerdings bei der Entrichtung willkürlich erhobener Steuern finden (vgl. die Begründung des Verordnungsgebers zu § 5 Abs. 2 Nr. 4 AufenthV hinsichtlich der Unzumutbarkeit der Zahlung von Gebühren, die auf willkürlicher Grundlage erhoben werden, BR-Drs. 731/04, S. 153).

Insoweit ist nach der gegebenen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die Erhebung der sogenannten "Diaspora-Steuer" keinen gleichförmigen und verifizierbaren Grundsätzen unterliegt und damit willkürlich erfolgt. [...]

Unter diesen Umständen kann von einem Ausländer wie dem Kläger, der bereits als Minderjähriger wegen des ihm in Eritrea zumindest drohenden nahezu unbegrenzten Militärdienstes unter Zurücklassen seiner Eltern unbegleitet Zuflucht im Exil gesucht hat und dementsprechend in Deutschland subsidiären Schutz genießt, schlechterdings nicht verlangt werden, mit einer zweiprozentigen Steuer auf sein Einkommen letztlich im Heimatland die Umstände zu unterstützen, vor denen er geflohen ist. Dies umso mehr, als es sich bei der Steuer um eine Leistung handelt, die der Kläger - anders als etwa eine einmalige Gebühr für die Ausstellung eines Passes - nach Bekanntwerden seines Aufenthalts bei den eritreischen Behörden fortan laufend zu entrichten hat, selbst wenn eine Eintreibung in Deutschland nicht erfolgt. Insoweit erachtet das Gericht den Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung, wonach er sich weigere, die Steuer zu zahlen, weil er nicht auf diese Weise das diktatorische Regime in seinem Heimatland unterstützen wolle, für glaubhaft. Unabhängig von diesen persönlichen Interessen des Klägers kann dahinstehen, ob es im Interesse der Bundesrepublik Deutschland liegt, vor der Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer und dem damit verbundenen Eingriff in die Personalhoheit des eritreischen Staates die Entrichtung dieser Steuer zu verlangen und mit dem dadurch geförderten Devisenfluss an Eritrea diesem die nötigen Mittel zu verschaffen, um die dortigen fluchtauslösenden Praktiken weiterhin zu betreiben und damit den Flüchtlingsstrom auch nach Deutschland weiterhin zu befördern. [...]

Somit liegt es nach § 5 Abs. 1 AufenthV im pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten, dem Kläger einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen. Die von dem Kläger begehrte Verpflichtung des Beklagten zur Ausstellung eines Reiseausweises setzt damit voraus, dass dieses Ermessen auf Null reduziert ist.

Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Anerkennung des Klägers als subsidiär Schutzberechtigten i.S.d. der Richtlinie 2011/95/EU (im Folgenden: Qualifikationsrichtline) und mit Hinblick auf die Regelung des Art. 25 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie das Ermessen der Ausländerbehörde auf Null reduziert, so dass dem Kläger ein Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer zusteht. § 5 Abs. 1 AufenthV ist richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass subsidiär Schutzberechtigten i.S.d. Qualifikationsrichtlinie in der Regel ein Reiseausweis für Ausländer zu erteilen ist, soweit nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Nach Art. 25 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (im Folgenden: Qualifikationsrichtline) stellen Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets aus, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. Die Richtlinie sieht somit einen Anspruch des Ausländers auf Ausstellung von Reisedokumenten vor, der an keine weiteren Voraussetzungen - wie etwa einen besonderen konkreten Anlass für die Erteilung - anknüpfen. [...]