VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 07.09.2021 - 19 CS 21.1772 - asyl.net: M30020
https://www.asyl.net/rsdb/m30020
Leitsatz:

Keine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung:

Eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung kann nicht angenommen werden, wenn eine sozial-familiäre Beziehung zwischen Vater und Kind nicht ausgeschlossen werden kann.

(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 24.06.2021 - 1 C 30.20 - asyl.net: M29912)

Schlagwörter: Vaterschaft, Vaterschaftsanerkennung, Rechtsmissbrauch, Eltern-Kind-Verhältnis, Vater, vorläufiger Rechtsschutz,
Normen: AufenthG § 85a, GG Art. 6 Abs. 1, BGB § 1597a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der verwaltungsgerichtlichen Auffassung, die im Bescheid vom 21. April 2020 ausgesprochene Feststellung, die Vaterschaftsanerkennung für den Antragsteller zu 2 durch den Antragsteller zu 1 sei missbräuchlich i.S.d. § 85a Abs. 1 AufenthG, dürfte materiell rechtmäßig sein, ist im Hinblick auf die Ausführungen im - nach dem angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Beschluss ergangenen - Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 2021 (Az. 1 C 30.20 - juris) nicht zu folgen. [...]

Im Sinne des § 1597a Abs. 1 BGB "nicht gezielt gerade zu dem Zweck" solcher aufenthaltsrechtlichen Wirkungen erfolgt eine Vaterschaftsanerkennung mithin jedenfalls dann, wenn mit ihr ein über die aufenthaltsrechtlichen Wirkungen hinausgehender, rechtlich anzuerkennender Zweck verfolgt wird (BVerwG, U.v. 24.6.2021 - 1 C 30.20 - juris Rn. 28 m.w.N.). Die hinzutretenden Zwecke müssen auf die Anerkennung einer Vaterschaft selbst bezogen sein, also der Begründung, Fortsetzung oder Vertiefung einer Eltern-Kind-Beziehung dienen. Die aus der Vaterschaftsanerkennung resultierende elterliche Verantwortung als ein Grundrecht im Interesse des Kindes muss der Anerkennende auch tatsächlich wahrnehmen ("leben") wollen; eine Anerkennung ist jedenfalls dann missbräuchlich, wenn weder eine persönliche Beziehung mit dem Kind oder dessen Mutter angestrebt wird noch die Bereitschaft besteht, ohne persönlichen Kontakt mögliche Rechte oder Pflichten, die mit der rechtlichen Elternschaft verbunden sind, wahrzunehmen (BVerwG, U.v. 24.6.2021 - 1 C 30.20-juris Rn. 29 m.w.N.). In Bezug auf die "gelebte" Intensität einer grundrechtlich geschützten Eltern-Kind-Beziehung sind vielfältige Ausformungen und Abstufungen möglich (BVerwG, U.v. 24.6.2021 - 1 C 30/20 - juris Rn. 30 m.w.N.). Nicht alle in der elterlichen Sorge gebündelten Rechte und Pflichten müssen durch den Anerkennenden in eigener Person oder gar in optimaler Weise wahrgenommen werden wollen. Erforderlich, aber hinreichend ist eine - angestrebte oder bereits wahrgenommene - tatsächliche Betätigung in Bezug auf einzelne Elemente der elterlichen Verantwortung wie z.B. die Gewährung von Sach- oder Barunterhalt. Die elterliche Verantwortung setzt eine häusliche Gemeinschaft nicht zwingend voraus; auch das Bestehen einer geistig-emotionalen Nähebeziehung kann ausreichen. Umgekehrt ist eine besondere geistig-emotionale Nähebeziehung nicht erforderlich, wenn andere aus der elterlichen Sorge folgende Pflichten erfüllt werden (sollen und können); so ist etwa das Fehlen einer sozial-familiären Beziehung im Sinne des § 1600 Abs. 3 Satz 2 BGB zwischen Vater und Kind kein zuverlässiger Indikator dafür, dass eine den Aufenthaltsstatus der Beteiligten objektiv verbessernde Vaterschaftsanerkennung gerade auf aufenthaltsrechtliche Vorteile zielt (BVerwG, U.v. 24.6.2021 - 1 C 30.20 - juris Rn. 31 m.w.N.). [...]

Nach diesem Maßstab überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers, weil der angegriffene Bescheid zum maßgeblichen Zeitpunkt einer summarischen Prüfung nicht standhält und (derzeit) nicht von einer missbräuchlichen Vaterschaftsanerkennung i.S.d. § 85a Abs. 1 AufenthG durch den Antragsteller zu 1 ausgegangen werden kann. [...]

Aufgrund der derzeitigen Umstände kann aber eine bestehende sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Antragsteller zu 1 und dem Antragsteller zu 2 nicht ausgeschlossen werden. Dies ergibt sich daraus, dass mangels entgegenstehender Anhaltspunkte von einem Aufenthalt des Antragstellers zu 1 am Wohnort der Kindsmutter bereits seit dem Zeitpunkt auszugehen ist, ab dem dem Antragsgegner der Aufenthalt des Antragstellers zu 1 unbekannt ist (seit dem 1.6.2020). Zwar ist zu sehen, dass die Verlagerung des Wohnsitzes in zeitlich nachfolgendem Zusammenhang mit dem Bescheid vom 21. April 2020, also mithin 5 Monate nach der Geburt des Antragstellers zu 2. erfolgt ist. Gleichwohl sind vom Antragsgegner keine weiteren Umstände vorgetragen worden oder anderweitig ersichtlich, die darauf schließen lassen würden, dass der Antragsteller zu 1 seinen Aufenthaltsort aus einem anderen Grund als zur Kontaktaufnahme mit dem Antragsteller zu 2 gewechselt hat. Insoweit ist im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung nicht von Belang, dass der Antragsteller zu 1 (zunächst) wohl zu einem Freund und (wegen der beengten Wohnverhältnisse) nicht in die Wohnung der Kindsmutter gezogen ist (laut amtlicher Meldebestätigung vom 3.9.2021 hat der Antragsteller zu 1 den Einzug in die Wohnung der Kindsmutter nunmehr rückwirkend zum 19.8.2021 gemeldet). Zudem wird in dem Schreiben des ... Regionaler Sozialpädagogischer Dienst 2) vom 20. Juli 2021 - wobei diesem nicht entnommen werden kann, auf welcher Grundlage eine solche Aussage getroffen worden ist und getroffen werden konnte - bestätigt, dass sich der Antragsteller zu 1 seit der Geburt des Antragstellers zu 2 "um diesen kümmert und versorgt". Für eine sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Antragsteller zu 1 und dem Antragsteller zu 2 spricht derzeit darüber hinaus, dass Nachbarn der Kindsmutter am 13. Juli 2020 auf Nachfrage und unter Vorlage eines Fotos des Antragstellers zu 1 gegenüber der Polizei erklärt haben, sie hätten einen Mann, der dem auf dem vorgelegten Foto ähnle, gelegentlich in den späten Abendstunden wahrgenommen. Der Senat hat daher nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen davon auszugehen, dass der Antragsteller zu 1 die Vaterschaft für den Antragsteller zu 2 "nicht gezielt gerade zu dem Zweck", die rechtlichen Voraussetzungen für einen erlaubten Aufenthalt zu schaffen, anerkennen will, sondern zumindest auch, um eine Eltern-Kind-Beziehung fortzusetzen und zu vertiefen. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus der Weigerung des Antragstellers zu 1, ein Abstammungsgutachten vorzulegen. Zudem kann den Antragstellern wohl auch nicht angelastet werden, dass sie einen (angekündigten) Bericht der Familienhelfer bislang nicht vorgelegt haben. Der Antragsgegner, den insoweit die Darlegungs- und Beweislast dafür trifft, dass die aus der Vaterschaftsanerkennung folgende elterliche Verantwortung tatsächlich nicht wahrgenommen werden soll, hat (bislang) keine aktuellen Umstände vorgetragen, die auf eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung schließen ließen. [...]