VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.07.2021 - 34 K 417.19 A - asyl.net: M30048
https://www.asyl.net/rsdb/m30048
Leitsatz:

Rechtswidrigkeit des Dublin-Bescheids bei Verwechslung von Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuch durch das BAMF:

1. Stellt das BAMF an den anderen Mitgliedstaat ein Wiederaufnahmegesuch statt ein Aufnahmegesuch, so führt dies nicht zur Verpflichtung der Aufnahme der betroffenen Person sowie zur Zuständigkeit des anderen Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens.

2. Die Zustimmungsfiktion zur Aufnahme der betroffenen Person durch den ersuchten Mitgliedstaat wegen Stillschweigen muss bereits bei Erlass des Bescheides durch das BAMF vorliegen. Der spätere Eintritt der Fiktion ist unbeachtlich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Abschiebung, Überstellung, Wiedereinreise, Aufnahmegesuch, Wiederaufnahmegesuch, entscheidungserheblicher Zeitpunkt, Zeitpunkt, Zustimmungsfiktion, Fiktion, Verfahrensfehler,
Normen: VO 604/2013 Art. 21, VO 604/2013 Art. 23, VO 604/2013 Art. 18, AsylG § 77 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Für ihn liegt ein Eurodac-Treffer der Kategorie 2 hinsichtlich Italiens vor, wonach ihm dort am 1. Februar 2018 Fingerabdrücke abgenommen wurden. Am 27. März 2018 stellte er im Bundesgebiet einen Asylantrag. Nachdem Italien auf das Aufnahmegesuch der Beklagten vom 5. April 2018 nicht reagiert hatte, lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 7. Juli 2018 u.a. den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Am 12. Oktober 2018 wurde er nach Italien abgeschoben.

Am 22. August 2019 stellte der Kläger im Bundesgebiet erneut einen Asylantrag. Das Bundesamt ersuchte Italien am 13. September 2019 um Übernahme des Klägers. Auch hierauf antwortete Italien nicht.

Mit Bescheid vom 15. Oktober 2019 lehnte die Beklagte den erneuten Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen, ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung machte die Beklagte geltend, Italien sei aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrages nach Art. 18 Abs. 1b) Dublin III-VO zuständig.  [...]

Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht als unzulässig abgelehnt. Rechtsgrundlage für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist hier nicht gegeben, weil nicht Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist.

Die fehlende Zuständigkeit Italiens folgt daraus, dass Italien nicht verpflichtet ist, den Kläger gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) Dublin III-VO nach Maßgabe der Art. 21, 22 und 29 Dublin III-VO aufzunehmen. Die Beklagte hat das in diesen Artikeln vorgeschriebene Aufnahmeverfahren nicht beachtet.

Ein solches Verfahren ist nicht deswegen entbehrlich, weil die Beklagte bereits im April 2018 ein Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit für das Asylverfahren des Klägers durchgeführt hat und dieser am 12. Oktober 2018 nach Italien abgeschoben wurde. Auch in dem Fall wie dem vorliegenden, in dem ein Schutzsuchender aus dem zuständigen Mitgliedstaat erneut in den unzuständigen Mitgliedstaat einreist, ist vor einer weiteren Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ein erneutes (Wieder-)Aufnahmeverfahren nötig (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 – C-360/16 - juris Rn. 55).

1. Es lässt sich schon nicht feststellen, dass die Beklagte nach der Wiedereinreise des Klägers ein nach der Dublin III-VO gebotenes Gesuch um dessen Aufnahme an Italien gerichtet hat. Nach Art. 18 Abs. 1 Dublin III-VO ist die Aufnahme von der Wiederaufnahme eines Schutzsuchenden in der Weise abzugrenzen, dass im Falle der Wiederaufnahme der Schutzsuchende im ersten Mitgliedstaat bereits einen Asylantrag gestellt hat (Art. 18 Abs. 1 Buchst. b bis d Dublin III-VO), während bei der Aufnahme nur ein Asylantrag im zweiten Mitgliedstaat vorliegt (Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO). Bedeutsam ist diese Unterscheidung sowohl für das Prüfprogramm zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates (vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 u.a. - juris Rn. 58 ff.) als auch für Verfahrensgestaltung (für das Aufnahmeverfahren Art. 21 f. Dublin III-VO; für das Wiederaufnahmeverfahren Art. 23 ff. Dublin III-VO).

Im vorliegenden Verfahren hätte die Beklagte ein Aufnahmegesuch an Italien richten müssen, weil der Kläger dort im Sinne von Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO keinen Asylantrag gestellt hat. Das Gericht hat keine Zweifel daran und es ist zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der Kläger in Italien weder nach seiner Ersteinreise noch nach seiner Abschiebung explizit Asyl beantragt hat. Neben den eigenen Angaben des Klägers spricht dafür, dass für ihn kein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 (IT1...) in Bezug auf Italien vorliegt, sondern nur der Kategorie 2 (IT2...). Dabei steht "IT" für Italien, die nachfolgende Ziffer "1" bedeutet nach Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Eurodac-VO), dass der Betreffende internationalen Schutz beantragt hat, während die Ziffer "2" lediglich die Erfassung von Fingerabdrücken belegt (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 Eurodac-VO). Der Beklagten kann nicht mit ihrer Erwägung gefolgt werden, es liege deswegen ein Asylantrag des Klägers in Italien vor, weil Italien für seinen in Deutschland gestellten Asylantrag zuständig sei. Dieses Verständnis widerspricht der Dublin III-VO, die etwa in Art. 18 Abs. 1 eindeutig zwischen der Frage der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates einerseits und der tatsächlichen Frage, ob ein Schutzsuchender im ersten Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, unterscheidet. Nach der Ansicht der Beklagten würde dies jedoch zusammenfallen, weil dann ein nur im zweiten Mitgliedstaat gestellter Asylantrag auch als im ersten, zuständigen Mitgliedstaat als gestellt geltend würde. Auch die Regelung in Art. 24 Abs. 3 Dublin III-VO spricht gegen das Verständnis der Beklagten. Danach hat der Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich ein Schutzsuchender ohne Aufenthaltstitel aufhält, diesem Gelegenheit zu geben, einen neuen Asylantrag zu stellen, wenn die Frist für das Unterbreiten eines Wiederaufnahmegesuches verstrichen ist. Nach dieser Regelung kann ein Schutzsuchender im nunmehr zuständigen zweiten Mitgliedstaat (vgl. zur Zuständigkeit in diesem Fall EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 - C-360/16 - juris Rn. 80) einen (weiteren) Asylantrag stellen, obwohl er bereits im ersten Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, weil die zuständige Asylbehörde die Frist für ein Wiederaufnahmegesuch versäumt hat. Wenn das Verständnis der Beklagten zutreffen würde, gäbe es keinen Bedarf, einem Schutzsuchenden die Möglichkeit einzuräumen, einen (erneuten) Asylantrag im zweiten Mitgliedstaat  zu stellen, weil nach ihrer Auffassung bereits im zweiten Mitgliedstaat ein Asylantrag als gestellt anzusehen wäre, nämlich der im ersten Mitgliedstaat gestellte. Gegen die Ansicht der Beklagten ist zudem einzuwenden, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ein noch nicht bestandskräftig abgelehnter Asylantrag im ersten Mitgliedstaat nicht der Stellung eines neuen Asylantrags im zweiten Mitgliedstaat gleichzustellen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 - C-360/16 - juris Rn. 85). [...]

Selbst wenn davon auszugeben wäre, dass die Beklagte richtigerweise ein Wiederaufnahmegesuch an Italien zu stellen hätte, würde dies nichts daran ändern, dass offen bleibt, ob sie mit ihrem Gesuch vom 13. September 2019 Italien um Wiederaufnahme des Klägers ersucht hat.

Es ist auch nicht aus Rechtsgründen unbeachtlich (etwa nach § 46 VwVfG), ob die Beklagte Italien um Aufnahme oder um Wiederaufnahme des Klägers ersucht hat. Denn wie dargestellt handelt es sich bei Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren um unterschiedliche Verfahrensarten. Diese Verfahren müssen zwingend im Einklang mit der Dublin III-VO durchgeführt werden (vgl. EuGH, Urteil vom 31. Mai 2018 - C-647/16 - juris Rn. 49). Auf diesen Verfahrensfehler kann sich der Kläger auch berufen (vgl. zur Einräumung subjektiver Rechte durch die Verfahrensvorschriften der Dublin-III-Verordnung EuGH, Urteile vom 7. Juni 2016 - C-63/15 [Ghezelbash] - und - C-155/15 [Karim] -, sowie vom 25. Oktober 2017 - C-201/16 [Shiri] -; alle bei juris).

2. Für den Fall, dass sich - entgegen den Ausführungen unter 1. - hinreichend verlässlich feststellen lassen sollte, dass die Beklagte ein Aufnahmegesuchen an Italien gerichtet hat, ist der angegriffene Bescheid rechtswidrig, weil im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt der Bescheidzustellung nicht die Zustimmung Italiens zur Aufnahme des Klägers vorlag.

Der insoweit von der Regel in § 77 Abs. 1 AsylG abweichende maßgebliche Zeitpunkt, zu dem die Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaates vorliegen muss, folgt unmittelbar aus dem Unionsrecht. Eine Überstellungsentscheidung darf dem Schutzsuchenden erst zugestellt werden, nachdem der ersuchte Mitgliedstaat seiner Aufnahme oder Wiederaufnahme stillschweigend oder ausdrücklich zugestimmt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 31. Mai 2018 - C-647/16 - juris Rn. 46).

Im Zeitpunkt der Zustellung des angegriffenen Bescheides an den Kläger am 18. Oktober 2019 lag keine Zustimmung Italiens zu dessen Aufnahme vor. Eine explizite Zustimmung ist bei der Beklagten nicht eingegangen.

Auch hat Italien zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht stillschweigend der Aufnahme des Klägers zugestimmt. Der ersuchte Mitgliedstaat ist nach Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, über die Aufnahme eines Schutzsuchenden spätestens innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Aufnahmegesuchs zu entscheiden. In Fällen besonderer Dringlichkeit besteht eine Antwortfrist von einem Monat (Art. 21 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 6 Dublin III-VO). Sofern innerhalb der Frist keine Antwort des ersuchten Mitgliedstaates eingeht, ist nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO davon auszugeben, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird. Die Voraussetzungen der Zustimmungsfiktion waren zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses nicht erfüllt. Da sich die Beklagte nicht auf das Dringlichkeitsverfahren berufen hat, betrug die Antwortfrist Italiens auf das Übernahmegesuch zwei Monate. Zum Zeitpunkt der Bescheidzustellung am 18. Oktober 2019 war diese Frist nicht abgelaufen, weil die Beklagte das Übernahmegesuch an Italien am 13. September 2019 richtete. Damit endete die Verschweigensfrist erst am 13. November 2019.

Dieser Verfahrensfehler kann nicht geheilt werden (etwa nach § 45 Abs. 1 Nr. 5 VwVfG) und ist nicht (etwa nach § 46 VwVfG) unbeachtlich (so auch VG Berlin, Beschluss vom 29. August 2019 - 31 L 398.19 A - juris Rn. 20; a.A. VG Minden, Beschluss vom 18. Juli 2018 - 10 L 776/18.A - juris Rn. 56 ff.). Insbesondere ist hier ohne Bedeutung, dass mittlerweile die Antwortfrist abgelaufen ist, ohne dass eine Mitteilung italienischer Behörden bei der Beklagten eingegangen ist. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine Abweichung von den Verfahrensvorschriften zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates in der Dublin III-VO aufgrund nationaler Rechtsvorschriften unionsrechtlich nicht zulässig ist. Es kann nicht zugelassen werden, dass die klaren und praktikablen Verfahrensvorschriften der Dublin III-VO je nach Regelungen der beteiligten Mitgliedstaaten unterschiedlich angewendet werden (vgl. EuGH, Urteil vom 31. Mai 2018 – C-647/16 - juris Rn. 66). Vor diesem Hintergrund lässt es der Europäische Gerichtshof nicht ausreichen, dass nach  dem französischen Recht die Vollziehung der Überstellungsentscheidung bis zur Antwort des ersuchten Mitgliedstaates ausgesetzt ist (Rn. 64), womit er die Relevanz der späteren (fiktiven) Zustimmung des ersuchten Mitgliedstaates verneint. Außerdem wäre die praktische Wirksamkeit des Unionsrechtes (effet utile) erheblich beeinträchtigt, wenn durch nationale Rechtsvorschriften im Ergebnis eine von der Dublin III-VO abweichende Verfahrensgestaltung zulässig wäre. Denn wenn eine Heilung der Verfahrensfehler oder deren Unbeachtlichkeit aufgrund nationaler Rechtsvorschriften (hier: §§ 45 f. VwVfG) möglich wäre, hätte dies zur Folge, dass entgegen den zwingenden Verfahrensvorschriften der Dublin III-VO im Zeitpunkt der Bescheidzustellung eine Antwort des ersuchten Mitgliedstaates nicht vorliegen muss. Die gegenteilige Auffassung, die sich auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs in anderem Zusammenhang bezieht, übersieht, dass in Bezug auf die Fehler im Ablauf eines (Wieder-)Aufnahmeverfahrens mit dem genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 31. Mai 2018 bereits eine konkrete Entscheidung zu dieser Konstellation vorliegt. [...]