VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 20.09.2021 - 4 A 228/20 HAL - asyl.net: M30067
https://www.asyl.net/rsdb/m30067
Leitsatz:

Aufhebung eines Widerrufs des subsidiären Schutzstatus:

1. Der Begriff der "schweren Straftat" in § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG ist vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden Regelung in Art. 17 Abs. 1b der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) auszulegen. 

2. Es ist nicht ausreichend, wenn das BAMF lediglich darauf verweist, dass durch die Straftat die Voraussetzungen für das Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr.1a gegeben seien. Vielmehr ist in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Verhältnisse vorzunehmen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Rücknahme, schwere nichtpolitische Straftat, Körperverletzung, Ermessen, Strafmaß, Ausschlussgrund, gefährliche Körperverletzung,
Normen: AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1a, AsylG § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, RL 2011/95/EU Art. 17 Abs. 1b,
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg.

Der Bescheid des Bundesamts vom 19. Juni 2020 ist auf der Grundlage der gemäß § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im angegriffenen Umfang rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO).

Die Voraussetzungen des § 73b Abs. 3 AsylG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist die Zuerkennung des subsidiären Schutzes u.a. zurückzunehmen, wenn der Ausländer nach § 4 Absatz 2 von der Gewährung subsidiären Schutzes hätte ausgeschlossen werden müssen oder ausgeschlossen ist. Hier ist jedoch kein Ausschlussgrund gemäß § 4 Abs. 2 AsylG gegeben, insbesondere nicht der vom Bundesamt als verwirklicht angesehene Grund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG.

Nach dieser Gesetzesstelle ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Daran fehlt es hier.

Mit § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG wurde Art. 17 Abs. 1b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen der Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, einen einheitlichen Status der Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Abl. L 337, S. 9) umgesetzt. Dies ist bei der Auslegung des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG zu berücksichtigen. Eine Definition der "schweren Straftat" enthält die Richtlinie 2011/95/EG nicht. Die Richtlinie verweist zur Bestimmung des Sinnes und der Tragweite dieses Begriffs auch nicht ausdrücklich auf das nationale Recht (EuGH, Urteil vom 13. September 2018 – C-369/17 — Juris Rn. 33). Insofern hat der Begriff der "schweren Straftat" eine autonome und einheitliche Auslegung zu erhalten, die unter Berücksichtigung ihres Kontextes und des mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgten Ziels gefunden werden muss (EuGH, Urteil vom 13. September 2018 - C-369/17 - Juris Rn. 36). Zweck des Art. 17 Abs. 1b Richtlinie 2011/95/EU ist es, Personen auszuschließen, die als des subsidiären Schutzes unwürdig angesehen werden, und die Glaubwürdigkeit des gemeinsamen europäischen Asylsystems zu erhalten, das sowohl die Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft als auch die Maßnahmen über die Formen des subsidiären Schutzes umfasst, die einer Person, die eines solchen Schutzes bedarf, einen angemessenen Status verleihen. Dieser Ausschlussgrund bildet eine Ausnahme von der in Art. 18 Richtlinie 2011/95/EU aufgestellten allgemeinen Regel und ist daher restriktiv auszulegen. Dabei kommt dem Kriterium des in den strafrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Strafmaßes zwar eine besondere Bedeutung zu, dennoch hat die zuständige Behörde in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorzunehmen, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen. Das ist anhand einer Vielzahl von Kriterien, wie unter anderem der Art der Straftat, der verursachten Schäden, der Form des zur Verfolgung herangezogenen Verfahrens, der Art der Strafmaßnahme und der Berücksichtigung der Frage zu beurteilen, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen wird (EuGH, Urteil vom 13. September 2018 - C-369/17 - Juris 51 ff.). Das bloße Abstellen auf die Wertung des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, der den Fall des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 53 Abs. 1 AufenthG im Falle der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr für verschiedene Straftaten zum Gegenstand hat, - wie dies das Bundesamt getan hat - scheidet vor diesem Hintergrund aus.

Nach diesem Maßstab handelt es sich bei der vom Kläger begangenen Tat, die als gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 StGB geahndet wurde, nicht um eine schwere Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 S. 1. Nr. 2 AsylG.

Insofern ist zum einen zu berücksichtigen, dass es sich bei einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 StGB nicht um ein Verbrechen, sondern um ein Vergehen handelt, für das die Norm einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsieht. Die vom Amtsgericht Augsburg verhängte Strafe von einem Jahr und drei Monaten befindet sich im unteren Bereich dieses Rahmens. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Tat des Klägers um einen einmaligen - wenn auch mit erheblicher krimineller Energie ausgeführten - Akt handelte, dem eine stundenlange Provokation des Geschädigten vorausgegangen ist. Überdies erfolgte die Tat letztlich in Erwartung eines Angriffs des Geschädigten, auch wenn eine tatsächliche Notwehrsituation noch nicht vorgelegen hatte. Der Geschädigte trug zwar eine erhebliche Schnittverletzung an der Hand davon, die mit 27 Stichen genäht werden musste und einen einwöchigen Krankenhausaufenthalt zur Folge hatte, jedoch hat der Geschädigte keine dauerhaften Schäden davongetragen. Schließlich ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die Tat in den anderen Rechtsordnungen überwiegend als schwere Straftat eingeordnet werden würde. Der Kläger hat vielmehr insofern unbestritten und zutreffend vorgetragen, dass die Tat nach dem österreichischen Strafgesetzbuch lediglich als Körperverletzung (§ 83 ÖStGB) mit einem Strafrahmen von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe und in der französischen Rechtsordnung als vorsätzliche Gewalttätigkeit, für die eine Geldstrafe vorgesehen sei (Art. R625-1 FrStGB), einzuordnen wäre. Im Ergebnis ist deshalb unter Berücksichtigung der genannten Umstände nicht anzunehmen, dass die vom Kläger begangene Straftat eine derartige Schwere aufweist, die es rechtfertigte, ihn - zeitlich unbeschränkt und ohne Rücksicht auf das Bestehen einer Wiederholungsgefahr - als unwürdig anzusehen, den subsidiären Schutzstatus zuerkannt zu bekommen. [...]