LG Lüneburg

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Zitieren als:
LG Lüneburg, Beschluss vom 29.10.2021 - 6 T 98/18 - asyl.net: M30147
https://www.asyl.net/rsdb/m30147
Leitsatz:

Verletzung des Beschleunigungsgebots:

1. Das Beschleunigungsgebot aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 und Art. 104 GG sowie analog Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verlangt, dass die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt (unter Berufung auf BGH, Beschluss vom 24.06.2020 - XIII ZB 9/19 - asyl.net: M28804)

2. Im vorliegenden Verfahren ist eine Verletzung des Beschleunigungsgebots festzustellen, da die Behörde den Antrag auf Ausstellung von Passersatzpapieren bei der kamerunischen Botschaft erst drei Wochen nach Inhaftierung des Betroffenen gestellt hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Passbeschaffung, Reisedokument, Passersatzpapier, Beschleunigungsgebot, Haftdauer, Sicherungshaft,
Normen: EMRK Art. 6, GG Art. 104, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

c) Die beteiligte Behörde hat jedoch das Beschleunigungsgebot verletzt.

Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus, verlangt aber, dass die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird und die Ausländerbehörde die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betreibt (vgl. BGH, Beschluss vom 21.10.2010 - V ZB 56/10, zitiert nach juris). Ein Verstoß kann vorliegen, wenn die Ausländerbehörde nicht alle notwendigen Anstrengungen unternimmt, um Passersatzpapiere zu beschaffen (vgl. BGH, Beschluss vom 11.07.1996- V ZB 14/96, zitiert nach juris). Dies führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht mehr weiter aufrechterhalten werden darf (vgl. BGH, Beschluss vom 10.6.2010 - V ZB 205/09, zitiert nach juris; Beschluss vom 24.06.2020- XIII ZB 9/19, zitiert nach juris).

Gemessen an diesem Maßstab hat die beteiligte Behörde nicht alles Erforderliche getan, um die Haft auf die kürzest mögliche Dauer zu begrenzen. Es ist nicht gerechtfertigt, dass die Vorbereitung des an die kamerunischen Behörden zu richtenden Antrags auf Ausstellung von Passersatzpapieren fast drei Wochen gedauert hat. Die beteiligte Behörde hat zwar bereits am 30. August 2018, dem Tag der Inhaftnahme des Betroffenen, die Vorbereitung dieses Antrags in Gang gesetzt. Die dafür zuständige Landesaufnahmebehörde Niedersachsen hat mit E-Mail vom 04. September 2018 um weitere Dokumente gebeten. Diese hat die beteiligte Behörde bereits am 05. September 2018 übermittelt. Es ist jedoch nicht zu rechtfertigen, dass die Landesaufnahmebehörde erst am 20. September 2018 den Antrag fertiggestellt und das Verfahren zur Beschaffung eines kamerunischen Passersatzes eingeleitet hat. Die Absicht, den Erstkontakt herzustellen und mit diplomatischen Vorgehensweisen auf Anhieb eine Zusammenarbeit zu vereinbaren und vertrauensvolle Beziehung zur Auslandsvertretung Kameruns herzustellen, die innerhalb kürzester Zeit zur Ausstellung von Passersatzpapieren führt, ist als solche nicht zu beanstanden; die zeitliche Verzögerung von nahezu drei Wochen, die anscheinend aufgrund des personellen Wechsels innerhalb der Botschaft eingetreten ist, ist vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgebotes jedoch nicht gerechtfertigt. Der beteiligten Behörde ist es nicht gelungen, zeitnah nach dem Eingang der Antragsunterlagen am 05. September 2018 einen zuständigen Mitarbeiter in der kamerunischen Botschaft zu erreichen, um die Passersatzausstellung einleiten zu können. Gerade vor dem Hintergrund des personellen Wechsels innerhalb der Botschaft und der damit verbundenen Unsicherheiten war unklar, wann mit einer konkreten Kontaktherstellung mit der kamerunischen Botschaft zu rechnen war. Zu diesem Zeitpunkt war damit unklar, ob die Abschiebungshaft auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt werden kann und die Abschiebung ohne unnötige Verzögerung betrieben werden kann, sodass die Haft hätte beendet werden müssen. Da die beteiligte Behörde nicht nachvollziehbar dargelegt hat, wann es ihr gelungen ist, den Termin für das Erstgespräch am 20. September 2018 zu vereinbaren, war auszusprechen, dass die Haft ab dem 05. September 2018 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat wegen Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot.

Auch durch den weiteren zeitlichen Ablauf hätten sich der beteiligten Behörde erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Haft im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot aufdrängen müssen. Bei dem ersten Besuch in der Botschaft von Kamerun am 20. September 2018 wurde der beteiligten Behörde erklärt, dass die zuständige Mitarbeiterin nicht mehr in der Botschaft tätig sei und eine Nachfolgerin noch nicht gefunden wurde. Es stellte sich zwar eine neue Ansprechpartnerin zur Verfügung; diese bat jedoch darum, in etwa drei Wochen wieder Kontakt aufzunehmen, um dann einen Termin zur Fallbesprechung zu vereinbaren. [...]