Vorläufige Erteilung eines Visums für Pflegekind und Nichte als "sonstige Familienangehörige":
1. Sowohl Nichten als auch Pflegekinder sind von der Regelung des Familiennachzugs "sonstiger Familienangehöriger" des § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG umfasst. Der Grundrechtsschutz als Familie durch Art. 6 GG kann auch durch rein faktische Elemente, z.B. der gelebten Gemeinschaft, begründet sein.
2. Eine besondere Härte liegt vor, da die Nachzugsberechtigte ihr Leben lang bei ihren Pflegeeltern gelebt hat, keinerlei weitere Familie hat und eine rechtliche Verfestigung der familiären Beziehung durch eine Adoption in Somalia faktisch ausgeschlossen ist.
3. Ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache ist nicht zumutbar, da die Trennungsdauer bereits viereinhalb Jahre andauert und eine spätere Einreise aufgrund der Coronapandemie unsicher erscheint.
(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Die Entscheidung wurde mit Beschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 21.10.2021 - 3 S 43/21 - bestätigt)
[…]
1. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie mit der die Vorwegnahme der Hauptsache rechtfertigenden hohen Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug für den zeitgleichen Nachzug mit ihrem Pflegevater (und dessen Kindern) zu ihrer Pflegemutter hat.
Der Antragsgegnerin ist zwar zunächst darin zuzustimmen, dass ein Anspruch auf Erteilung eines Visums nach § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36a Abs. 1 S.1 Alt. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) hier wohl ausscheidet. Danach kann dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der - wie die Pflegemutter der Antragstellerin - eine Aufenthaltserlaubnis, nach § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG besitzt, aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Nach Ansicht der erkennenden Einzelrichterin spricht Überwiegendes dafür, dass die dargestellten Schwierigkeiten bei einer Adoption in Somalia die Adoption nicht ersetzen (siehe ausführlich Schriftsätze der Antragsgegnerin vom 4. März 2021 und 1. April 2021), sondern lediglich bei der Beantwortung der Frage, ob eine außergewöhnliche Härte i.S.d. § 36 Abs. 2 S.1 AufenthG vorliegt, zu berücksichtigen sind. Damit läge das erforderliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht vor.
Es besteht aber höchstwahrscheinlich ein Anspruch nach § 6 Abs. 3 i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG. Danach kann sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers
ein Visum zum Familiennachzug erteilt werden, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist.
a) Bei der Antragstellerin handelt es sich um eine solche "sonstige Familienangehörige".
So ist die in der Geburtsurkunde als Mutter eingetragene Person die Schwester der Stammberechtigten, so dass die Antragstellerin danach die (rechtliche) Nichte der Stammberechtigten ist. Nichten gehören wie alle Mitglieder der Großfamilie zum Kreis der von § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG umfassten Nachzugsberechtigten (siehe nur Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 36 AufenthG Rn. 23).
Hinzu kommt, dass auch Pflegekinder von der Regelung des § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG umfasst sind (Bergmann, ebd. § 36 AufenthG Rn. 23). Der Grundrechtsschutz als Familie durch Art. 6 GG hängt nämlich weder von einer Ehe noch von der Abstammung der Kinder ab, neben der rechtlichen Verbindung kann die Anerkennung einer Familie auch durch rein faktische Elemente (z.B. gelebte Gemeinschaft) begründet sein (siehe von Coelln, in: Sachs, GG, 8. Aufl. 2018, Art, 6 Rn. 15f.). Um ein solches Pflegekind handelt es sich bei der Antragstellerin. Ihr Pflegevater hat im IOM-Gespräch im Rahmen des Visumverfahrens detailliert die Lebensgeschichte der Antragstellerin berichtet. Auch unter Berücksichtigung der Angaben der Stammberechtigten in ihrer Anhörung im Asylverfahren und in der Erklärung im Visumverfahren ergeben sich keine Widersprüche dazu, diese bestätigen vielmehr die Angaben des Pflegevaters. Die Antragsgegnerin hat weder im ablehnenden Bescheid vom 4. Februar 2021 noch im Schriftsatz vom 4. März 2021 Zweifel an dem faktischen Pflegeverhältnis geäußert, sondern die Zugehörigkeit Antragstellerin zu ihrer "bisherigen sozialen Familie" (Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 4. März 2021, S. 4) lediglich abweichend rechtlich bewertet.
b) Auch die übrigen Tatbestandsvoraussetzung des § 36 Abs. 2 AufenthG, insbesondere das Merkmal der außergewöhnlichen Härte, sind mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit erfüllt.
Eine außergewöhnliche Härte liegt auf Seiten der den Nachzug Begehrenden dann vor, wenn der im Ausland lebende volljährige Familienangehörige dort kein eigenständiges Leben führen kann und die von ihm benötigte, tatsächlich und regelmäßig zu erbringende wesentliche familiäre Lebenshilfe in zumutbarer Weise nur in der Bundesrepublik Deutschland durch die Familie erbracht werden kann, die in diesem Fall im Kern die Funktion einer familiären Lebensgemeinschaft ausfüllt. Nur wenn die Zusammenführung gerade in Deutschland zwingend geboten ist, hat der Staat aus dem Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG die Pflicht, die Familie zu schützen und einwanderungspolitische Belange zurückzustellen. Umgekehrt liegt keine außergewöhnliche Härte vor, wenn die benötigte Lebenshilfe auch im Heimatstaat des Ausländers erbracht werden kann (vgl. zu Vorstehendem BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2016 - 2 BvR 748/13 -, lnfAuslR 2016, 274, juris Rn. 13; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - BVerwG 1 C 15.12 -, BVerwGE 147, 278, juris Rn. 12f.). Da § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG den Familiennachzug betrifft, ist für die Berücksichtigung nicht familienbezogener, die allgemeine (insbesondere politische und wirtschaftliche) Lage im Herkunftsstaat betreffender Gesichtspunkte im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der außergewöhnlichen Härte grundsätzlich kein Raum (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. Juni 1997 - BVerwG 1 B 236.96 -, juris Rn. 9), so dass - worauf die Auslandsvertretung im Verwaltungsverfahren zutreffend hingewiesen hat - außer Betracht bleibt, wie sich die allgemeinen Lebensverhältnisse in Somalia oder Kenia darstellen.
Gleichwohl ist vorliegend bei umfassender Würdigung aller Umstände des Einzelfalles die Erteilung eines Visums zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich.
Die zwölfjährige Antragstellerin ist - anders als z.B volljährige Kinder - in einem Alter, in dem sie der familiären Gemeinschaft bedarf. Seit kurz nach ihrer Geburt lebte sie (bis zu deren Flucht) zusammen mit der Stammberechtigten und deren Ehemann, sie ist in der Familie der Stammberechtigten aufgewachsen, die anderen Kinder der Familie betrachten sie als ihre (große) Schwester. Ihre leiblichen Eltern sind ihr unbekannt, die Ausübung der elterlichen Sorge durch diese entspräche nicht dem Kindeswohl. Die rechtliche Verfestigung der über einen langen Zeitraum gelebten familiären Gemeinschaft in der Pflegefamilie im Wege der Adoption ist nach den übereinstimmenden Angaben der Antragstellerin und der Antragsgegnerin, die auch den Erkenntnissen des Gerichts entsprechen, derzeit in Somalia zumindest faktisch ausgeschlossen, so dass der Antragstellerin trotz der im Übrigen erfüllten Tatbestandsvoraussetzungen ein Nachzug nach § 36a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AufenthG verwehrt ist.
Die familiäre Lebensgemeinschaft kann weder in Somalia oder Kenia, sondern nur in Deutschland gelebt werden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat der Pflegemutter der Antragstellerin aufgrund der Ereignisse in Somalia und in Kenntnis ihres Voraufenthaltes in Kenia subsidiären Schutz zuerkannt. Diese Entscheidung über den Asylantrag der Pflegemutter ist gem. § 6 S. 1 Asylgesetz (AsylG) in allen Angelegenheiten verbindlich, in denen die Zuerkennung des Schutzes rechtserheblich ist. Dabei umfasst die Entscheidung des Bundesamtes nicht nur die auch die Feststellung, dass der Pflegemutter der Antragstellerin in Somalia ein ernsthafter Schaden in Form der unmenschlichen Behandlung droht (§ 4 Abs. 1 S. 1 i.V.m. S. 2 Nr. 2 AsylG), sondern auch, dass diese in Kenia nicht sicher war und sie nicht dorthin zurückkehren kann (§ 29 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 27 AsylG).
Ob grundsätzlich Voraussetzung für die Annahme einer außergewöhnlichen Härte der Eintritt eines Umstandes ist, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das gemeinsame Herkunftsland ohne das Kind zu [ver]lassen, nicht in Rechnung stellen konnten (dazu im Rahmen der Prüfung der besonderen Härte im Rahmen des § 32 Abs. 4 AufenthG; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. August 2020 – OVG 12 B 18.19 -, NVwZ-RR 2020, 997 [999] Rn. 27; Juris Rn. 29 m.w.N.; sowie die von der Antragsgegnerin zitierten Entscheidungen des OVG Berlin Brandenburg und des BVerwG; ferner Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK AusländerR, 28. Edition, Stand 1. Januar 2021, § 32 AufenthG Rn. 40), bedarf vorliegend keiner Klärung. Zu berücksichtigen ist insofern, dass die Pflegemutter der Antragstellerin Somalia nicht aus einer freien Migrationsentscheidung heraus verlassen hat, sondern auf der Flucht vor einer unmenschlichen Behandlung, die - wie oben bereits ausgeführt - verbindlich durch Bundesamt festgestellt wurde (zur Privilegierung des Familiennachzugs von Schutzberechtigten siehe beispielsweise § 29 Abs. 2, § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 1, § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 1, § 36a Abs. 1 S. 2 Hs. 2 AufenthG).
Der Einholung eines Einverständnisses der leiblichen Eltern, die unbekannten Aufenthaltes sind, bedarf es in der vorliegenden Konstellation der Annahme einer außergewöhnlichen Härte nicht (siehe Rechtsgedanken des § 32 Abs. 4 S. 1 AufenthG). [...]
2. Die Antragstellerin hat ferner glaubhaft gemacht, dass ihr ein Abwarten bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache wegen drohender schwerer Nachteile nicht zumutbar ist. Zwar hat die Antragsgegnerin in Aussicht gestellt, dass auf Ersuchen der Familienmitglieder die Entscheidung über die angekündigte Erteilung von Visa an den Pflegevater der Antragstellerin (und an dessen Kinder) ausgesetzt wird, bis über das Visumverfahren der Antragstellerin rechtskräftig entschieden ist. Ein solches Vorgehen ist aber aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles mit Härten verbunden, die dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie (Art. 6 GG) nicht gerecht werden. Vielmehr ist die gemeinsame Einreise der Antragstellerin mit ihrem Pflegevater aus Verfassungsgründen geboten.
Zum [einen] ist das vorgeschlagene Vorgehen mit Unsicherheiten für die Antragstellerin und ihre Familie verbunden. So ist - anders als bei einer Zusicherung als Zusage, einen bestimmten Verwaltungsakt später zu erlassen (§ 38 Abs. 1 S. 1 VwVfG) - nicht sichergestellt, dass die Auslandsvertretung oder die beigeladene Ausländerbehörde in der Zwischenzeit nicht zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage kommen und daher die in Aussicht gestellten Visa doch nicht erteilen. Ferner ist in Pandemiezeiten nicht sicher, dass der Besitz eines Visums auch während der gesamten Geltungsdauer des Visums zur Einreise berechtigt (siehe BVerfG, Beschluss vom 7. April 2021 - 2 BvR 572/21 -, juris Rn. 21 unter Hinweis auf die Empfehlung des Rates der Europäischen Union 2021/132 vom 2. Februar 2021 und die Corona-EinreiseVO des Bundesgesundheitsministeriums).
Zum anderen ist der Familie ein Abwarten auf die rechtskräftige Entscheidung im Visumsklageverfahren der Antragstellerin nicht zuzumuten. Der Pflegevater und die Kinder der Stammberechtigten sind bereits seit der Flucht der Stammberechtigten im Oktober 2017, d.h. seit 4 ½ Jahren, von dieser getrennt, die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft war mithin seit langer Zeit nicht möglich (Rechtsgedanke des § 36a Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). Zudem ist das Wohl von insgesamt zehn (10) minderjährigen Kindern betroffen (siehe den Rechtsgedanken des § 36a Abs. 2 Nr. 2 AufenthG, sowie Art. 3 Kinderrechtskonvention). Bis zum bestandskräftigen Abschluss des gerichtlichen Verfahrens würde die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft voraussichtlich um Jahre hinaus verhindert. Aus diesem Grund ist der Familie der Antragstellerin auch eine Ausreise allein der gemeinsamen Kinder der Pflegeeltern und ein Verbleib des Pflegevaters und der übrigen Kinder, deren Nachzugsanspruch nach der Ansicht der Antragsgegnerin am Nachzug ihres Vaters hängt, nicht zumutbar. Hinzu kommt, dass die gemeinsame Verlegung des Lebensmittelpunkts von Eltern und Kindern vom Gesetzgeber für förderungswürdig erachtet wird (siehe zu § 32 Abs. 2 S. 1 AufenthG: BT-Drs. 15/420, S. 83). [...]