VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 26.01.2021 - 8 K 476/18.GI.A - asyl.net: M30215
https://www.asyl.net/rsdb/m30215
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Somalia wegen der Gefahr erneuter Genitalverstümmelung im Falle einer Wiederverheiratung:

In Somalia wird die Genitalverstümmelung zwar in der Verfassung als grausame und herabwürdigende traditionelle Praxis bezeichnet. Es gibt jedoch keine Gesetze, auf deren Grundlage dagegen vorgegangen wird.

Über die Wahrscheinlichkeit der Reinfibulation lässt sich keine eindeutige Aussage treffen. Einer Frau, die bereits eine Genitalverstümmelung erlitten hat, kommt hier das Prinzip der Beweiserleichterung zugute.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Genitalverstümmelung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Durch die entsprechenden Maßnahmen in Somalia hat die Klägerin eine Vorverfolgung erlitten, so dass stichhaltige Gründe dagegen sprechen müssen, dass die Betroffene erneut von Verfolgung bei einer Rückkehr bedroht wird. Derartige stichhaltige Gründe gibt es nicht. Vielmehr droht nach der Auskunftslage eine Reinfibulation. Diesbezüglich wird beispielhaft hingewiesen auf Terre des Femmes vom 16.09.2015, BFA vom 17.09.2019 und ACCORD vom 31.03.2020. Danach gibt es immer noch keine eindeutige nationale Gesetzgebung, welche FGM verbieten würde. Die Verfassung stuft zwar die Beschneidung von Mädchen als grausame und herabwürdigende traditionelle Praxis ein und danach ist die Beschneidung von Mädchen verboten. Eine Definition von FGM enthält die Verfassung jedoch nicht. Die Genitalverstümmelung wird in Somalia landesweit an fast allen Mädchen und jungen Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren praktiziert, auch wenn sich landesweit die Regierung bemühen sollte, die Praxis einzuschränken (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20.04.2020). Die UN beziffert den Anteil an betroffenen Frauen auf 97,9 %, womit Somalia die weltweit höchste Rate an weiblicher Genitalverstümmelung vorweist. Eine Reinfibulation kommt vor allem dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen oder sollen. Es kommt zu Druck oder Zwang seitens der Eltern, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Stellt der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben, bis hin zur sofortigen "Scheidung". Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen (BFA vom 17.09.2019). Belastbare Zahlen über die Häufigkeit einer Reinfibulation liegen, soweit bekannt, nicht vor. Umgekehrt folgt hieraus, dass es keine stichhaltigen Gründe dafür gibt, dass sich eine zwangsweise herbeigeführte Genitalverstümmelung bei einer Rückkehr nicht wiederholen wird. Die Klägerin ist noch jung und im gebärfähigen Alter. Sollte sie erneut von der Verwandtschaft vermählt werden sollen, wird ein künftiger Ehemann oder dessen Mutter möglicherweise wieder eine Reinfibulation fordern. Wie konkret eine solche Gefahr ist, lässt sich, wie schon ausgeführt, nach der Auskunftslage nicht eindeutig bewerten. In dieser Situation kommt der Klägerin wegen der erlittenen Vorverfolgung die "Beweiserleichterung" (BVerwG, Urteil vom 20.04.2010, a.a.O.) zugute. [...]