VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 01.12.2021 - 9 K 2437/21.TR - asyl.net: M30240
https://www.asyl.net/rsdb/m30240
Leitsatz:

Anspruch auf erneutes Asylverfahren für Frau aus Afghanistan wegen "Verwestlichung":

Die Machtübernahme der Taliban stellt jedenfalls dann eine Änderung der Sachlage im Sinne von § 71a AsylG i.V.m. § 51 VwVfG dar, wenn sich die betroffene Person darauf beruft, als von westlichen Werten geprägte Frau nunmehr in Afghanistan einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt zu sein.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Taliban, Zweitantrag, Änderung der Sachlage, Asylfolgeantrag,
Normen: VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 71a, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Vorliegend ist ein Wiederaufgreifensgrund nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG gegeben, da sich die Sachlage nachträglich zugunsten der Klägerin geändert hat. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG setzt den substantiierten und glaubhaften Vortrags eines neuen Sachverhalts voraus, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung oder zur Flüchtlingszuerkennung zu verhelfen. Dabei genügt es nicht, dass der Asylbewerber eine nachträgliche Änderung der Sachlage lediglich behauptet; vielmehr ist es erforderlich, dass sich aus dem glaubhaften, substantiierten Vortrag des Asylbewerbers eine nachträgliche Änderung im Verhältnis zu der der früheren Asylentscheidung zugrundeliegenden Sachlage tatsächlich ergibt (BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, Juris).

Eine solche Sachlageänderung ist vorliegend anzunehmen, da sich nach Machtergreifung der Taliban die Situation für die Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan gegebenenfalls zu ihren Gunsten verändert haben könnte. Zwar geht das Gericht bislang nicht davon aus, dass sich die Lage für Frauen in Afghanistan generell derart verschlechtert hat, dass eine Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich zu einer Verfolgung i.S. der §§ 3 ff. AsylG führt. Indes erscheint es aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalls jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Taliban drohen könnte.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung stellt sich die Lage der Frauen in Afghanistan wie folgt dar:

In der ersten Woche der Machtübernahme der Taliban in der Hauptstadt Kabul versicherten Sprecher der Taliban den Frauen und der internationalen Gemeinschaft, dass die Rechte der Frauen "gemäß der Scharia" geschützt würden. Doch schon wenige Tage später forderten Taliban-Sprecher Journalistinnen auf, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Ende August sagte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid der New York Times, dass Frauen "langfristig zur Schule, ins Büro, in die Universität und in Krankenhäuser" gehen könnten, und zwar ohne männliche Begleitung. Weibliches medizinisches Personal wurde von der Taliban-Führung aufgefordert, sofort wieder zur Arbeit zu kommen. Einen Tag vorher hatte Mujahid noch erklärt, es sei für Frauen vorerst sicherer, zu Hause zu bleiben, da "die Kämpfer noch nicht sehr gut ausgebildet sind und Frauen misshandeln könnten". Trotz Erklärungen, den Frauen die Möglichkeit zu garantieren, zu arbeiten und zu studieren, gibt es Berichte, dass die Taliban begonnen haben, in einigen Gebieten erneut Beschränkungen für Frauen einzuführen, einschließlich Zwangsverheiratungen (insbesondere von jungen Mädchen) und strenge Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Die Taliban haben nach der Übernahme der Kontrolle über Distrikte in mehreren Provinzen, darunter Faryab, Kunduz, Badakhshan und Takhar, Frauen verboten, das Haus ohne Hidschab und ohne Mahram zu verlassen. Zudem haben sie die Schließung von Mädchenschulen und gemischten Schulen und das Verbot von Gesundheitsdiensten für Frauen ohne Mahram erlassen. Auch Ärzte, Rikschafahrer und Ladenbesitzer sollen bestraft werden, wenn sie mit Frauen ohne Mahram angetroffen würden (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdung, durch die Taliban, S. 16 ff.; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sonderkurzinformation der  Staatendokumentation vom 17. August 2021, S. 2; FAZ, Die Regeln haben sich geändert, 21. August 2021, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilieton/rnedien/die-taIiban-und-die medien-17493503.html). Mädchenschulen sollen laut Angaben der Taliban wieder geöffnet werden (vgl. FAZ, Taliban kündigen Wiederöffnung der Mädchenschulen an, 21. September 2021 abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-taliban-kuendigen-wiederoeffnung-der-maedchenschulen-an-175474 65.html). Studentinnen und Studenten dürfen künftig nicht mehr gemeinsam studieren. Frauen dürften nur noch von Dozentinnen oder "älteren Professoren mit gutem Charakter" unterrichtet werden (FAZ, Die Zukunft liegt hinter Schleiern, 15. September 2021, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/afghanistans-universitaeten-die-zukunft-liegt-hinter-schleiern-17535467.html.). Das Frauenministerium wurde mit der Machtübernahme der Taliban abgeschafft. Stattdessen wurde an dessen Sitz in Kabul symbolträchtig ein "Ministerium für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Laster" angesiedelt. Die weiblichen Beschäftigten wurden nach Hause geschickt (vgl. FAZ, Unveränderte Taliban, 20. September 2021, abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/afghanistan-taliban-schraenken-vor-allem-fuer-frauen-grundrechte-ein-17544796.html). Auch wird Journalistinnen der Zugang zu ihrer Berufsstätte verwehrt. Vereinzelt kommt es auch zu gewaltsamen Übergriffen auf Reporterinnen (vgl. FAZ, Hilferuf aus Afghanistan, 20. September 2021, abrufbar unter www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/appell-von-103-journalisten-hilferuf-aus-afghanistan-17544499.html). Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996-2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation vom 17. August 2021, S. 3).

Aus den vorgenannten Erkenntnisquellen ergibt sich, dass sich die Lage für Frauen unter dem Taliban-Regime teilweise verschlechtert hat. Seitens der Taliban werden zwar Zugeständnisse hinsichtlich der Rechte der Frauen gemacht, ob diese eingehalten werden, ist jedoch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unsicher und wird sowohl in Afghanistan als auch im Ausland bezweifelt. Aus diesen Erkenntnisquellen ergibt sich zwar nicht, dass Frauen in Afghanistan generell und zwangsläufig aufgrund ihres Geschlechts in einem asylrelevanten Schutzgut betroffen sind. Jedoch kann sich eine Verfolgung anknüpfend an das Geschlecht im Einzelfall ergeben, wenn in der Person der Frau besondere, gefahrerhöhende Umstände vorliegen.. Vorliegend erscheint es nicht ausgeschlossen, dass in der Person der Klägerin entsprechende gefahrerhöhende Umstände vorliegen.

Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft und detailliert geschildert, inwiefern sie von der westlichen Kultur beeinflusst und geprägt wurde - und war in der Lage, klar zwischen ihrer Einstellung und Mentalität einerseits und der afghanischen Kultur andererseits zu differenzieren und dem Gericht die Unterschiede darzulegen. Dabei hat die Klägerin insbesondere detailreich dargelegt, sich seit Jahren intensiv mit Frauen- und Menschenrechten auseinandergesetzt zu haben, und war in der Lage, ihre Überzeugungen offen und nachvollziehbar zu erläutern.

Das Gericht hält es daher jedenfalls nicht für nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ausgeschlossen, dass sich für die Klägerin die begründete Furcht vor Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1 AsylG daraus ergibt, dass sie in ihrer Identität in einem solchen Maße westlich geprägt ist, dass sie nicht mehr dazu in der Lage wäre, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen bzw. dass ihr eine solche Anpassung nicht mehr zumutbar wäre (vgl. OVG Nds. Urteil vom 21. September 2015 - 9 LB 20/14 - juris). [...]