VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 17.12.2021 - A 1 K 807/19 - asyl.net: M30265
https://www.asyl.net/rsdb/m30265
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für alleinstehenden Mann ohne soziales Netzwerk:

1. Seit der Machtübernahme der Taliban haben sich die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan grundlegend geändert, so dass zumindest hinsichtlich des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG Wiederaufgreifensgründe nach § 51 Abs. 5 VwVfG vorliegen. Die vom VGH Baden-Württemberg dargestellten Erkenntnisse zur wirtschaftlichen Lage in Afghanistan können nach der Machtübernahme der Taliban nicht mehr zugrundegelegt werden.

2. Für einen jungen Mann ohne soziales Netzwerk und ohne eigene oder durch Dritte verfügbare finanzielle Ressourcen ist ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan festzustellen, da aufgrund der wirtschaftlichen und humanitären Lage Menschenrechtsverletzungen nach Art. 3 EMRK drohen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezugnahme auf VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 (Asylmagazin 3/2021, S. 78 ff.) - asyl.net: M29309)

Schlagwörter: Abschiebungsverbot, Afghanistan, Taliban, Aufnahmebedingungen, alleinstehende Männer, Existenzminimum, Wiederaufnahme des Verfahrens,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, VwVfG § 51 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Denn die Beklagte ist jedenfalls zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne nach § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung §§ 48, 49 VwVfG verpflichtet, soweit die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Rede steht. Ihr diesbezügliches Ermessen ist auf Null reduziert, weil das Festhalten an der ursprünglichen, negativen Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK im Hinblick auf Afghanistan zu. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind für ihn unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan und gerade derjenigen in Kabul sowie der persönlichen Situation des Klägers gegeben. Bei einer Abschiebung würde er einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt. [...]

Angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Urteil vom 17.12.2020 entschieden, dass er zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält und davon ausgeht, dass auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt sind, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Auch eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Betreffenden sind keine Umstände, die für sich allein bewirken, dass ein leistungsfähiger, erwachsener Mann ohne Unterhaltspflichten im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 17.12.2020, a.a.O. Rn. 105).

Das Gericht ist dieser Einschätzung bis Juli 2021 auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel (vgl. UN OCHA, Afghanistan Strategie Situation Report: COVID-19 No. 90, 4 February 2021; UN OCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 18 February 2021; BAMF, Briefing Notes v. 22.02.2021, S. 1, 01.03.2021, S. 1, 08.03.2021, S. 2, 15.03.2021, S. 1 f., 22.03.2021, S. 1 f., 29.03.2021, S. 2, 12.04.2021, S. 1 f., 19.04.2021, S. 1, 26.04., S. 1 f., 31.05.2021, S. 1 f., 14.06.2021, S. 1 f., 28.06.2021, S. 1 f.; Stahlmann, Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen, Juni 2021, S. 41 ff.) gefolgt.

Diese Verhältnisse können indes zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr zugrunde gelegt werden. Die Taliban haben, nachdem sie nach dem Abzug der ausländischen Truppen in schneller Folge große Gebietsgewinne haben verzeichnen können und ganze Provinzen kampflos durch die Regierungstruppen aufgegeben worden sind, am 15.08.2021 kampflos Kabul eingenommen. Der gewählte afghanische Präsident ist in eines der Nachbarländer geflüchtet. Die internationalen Truppen haben zunächst noch den Flughafen Kabul gehalten, um eigene Staatsangehörige und auch Ortskräfte, deren Familien und besonders gefährdete Personen evakuieren zu können. Am 31.08.2021 hat das US-Militär seinen Einsatz in Afghanistan für abgeschlossen erklärt und seine letzten Soldaten vom Flughafen in Kabul abgezogen (vgl.Taliban declares "war is over in Afghanistan" as foreign power exit Kabul, abrufbar unter www.theguardian.com/world/2021/aug/16/taliban-declare-war-is-over-in-afghanistan-as-us-led-forces-exit-kabul; Afghanischer Präsident hat das Land verlassen, abrufbar unter www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/aschraf-ghani-afghanistan-praesident-flucht-taliban-vormarsch-kabul; Letzte US-Truppen aus Afghanistan abgezogen, abrufbar unter www.tagesschau.de/ausland/asien/us-abzug-afghanistan-107.html, <jeweils aufgerufen am 17.12.2021>).

Damit haben sich die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan grundlegend verändert. [...]

Bei dieser Sachlage sind in der Person des Klägers die nach den oben dargestellten Maßstäben engen Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 3 EMRK erfüllt, auch wenn unterstellt wird, dass er erwachsen und gesund ist sowie über Schulbildung verfügt. Er verfügt über kein familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan, das ihn insbesondere auch auf dem hart umkämpften Arbeitsmarkt bei der Vermittlung einer adäquaten Arbeitsstelle unterstützen könnte. Ausreichende eigene finanzielle Mittel zur Sicherung des Existenzminimums sind ebenfalls nicht vorhanden. Der Kläger befindet sich seinen Angaben zufolge momentan in einem Ausbildungsverhältnis, weshalb davon auszugehen ist, dass er weder über nennenswerten Ersparnisse verfügt noch Vermögen hat, aus dem kurzfristig Einkünfte generiert werden könnten. Schließlich ist auch keine Unterstützung durch dritte Personen, insbesondere durch Verwandte oder Bekannte im Ausland zu erwarten.

Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls ist deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es dem Kläger gelingen würde, ausreichende Mittel zu verdienen, um in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, das heißt insbesondere Nahrung, Obdach und medizinische Versorgung für sich sicherzustellen. Ihm droht eine Verletzung des Art. 3 EMRK. Er würde infolgedessen aller Voraussicht nach im Falle der Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen und damit einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgeliefert werden. [...]