VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 10.12.2021 - A 19 K 1528/19 - asyl.net: M30278
https://www.asyl.net/rsdb/m30278
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für zum Christentum konvertierte Iranerin

1. Personen, bei denen Anhaltspunkte für eine Konversion vorliegen, werden regelmäßig bei ihrer Rückkehr in den Iran durch die Sicherheitsbehörden befragt.

2. Es ist der Klägerin nicht zuzumuten, in einer Rückkehrerbefragung ihren Glauben zu verleugnen. Da ihr bei Offenlegung des christlichen Glaubens Verfolgungshandlungen durch den iranischen Staat drohen, ist ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Christen, Konvertiten, Islam, Konversion, religiöse Verfolgung, Glaubenswechsel, Religion, Taufe, Taufurkunde, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

B. Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (dazu 1.), so dass die Ablehnung ihres diesbezüglichen Begehrens rechtswidrig ist und sie in eigenen Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Regelungen in Nr. 3 und Nr. 4 des angegriffenen Bescheids sind aufzuheben, weil sie mit der Verpflichtung der Beklagten zur Flüchtlingsanerkennung gegenstandslos werden (dazu II.). Die Regelungen in Nr. 5 und Nr. 6 erweisen sich infolge dieser Verpflichtung als rechtswidrig und sind aufzuheben, weil sie die Klägerin in eigenen Rechten verletzen, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (dazu III.). [...]

Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG und Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2011/95/EU setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt. Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Denn schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine hinreichend gravierende Handlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG und Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2011/95/EU und somit eine Verfolgung darstellen, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z. B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67 Rn. 24 ff.). [...]

b) Die Situation von Christen und insbesondere zum Christentum konvertierten Moslems im Iran stellt sich ausweislich der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel wie folgt dar:

Apostasie, die Abwendung vom Islam, ist im Iran verboten und mit langen Haftstrafen bis hin zur Todesstrafe bedroht (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Iran, 20.11.2020, S. 52), wobei die Anklage oftmals nicht auf Apostasie lautet, sondern auf "Gefährdung der nationalen Sicherheit", "Organisation von Hauskirchen" oder"Beleidigung des Heiligen", wohl um die mit Apostasie verbundene Todesstrafe zu vermeiden (AA, Lagebericht vom 05.02.2021, S. 15). Muslimische Konvertiten sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt. Gottesdienste in der Landessprache Persisch sind verboten, ebenso die Verbreitung christlicher Schriften (AA, Lagebericht vom 05.02.2021, S. 14). Bei einer Rückkehr in den Iran sind insbesondere Konvertiten gefährdet, die bereits vor ihrer Ausreise ins Visier der iranischen Behörden geraten sind (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran: Lage von im Ausland zum Christentum konvertierter Personen bei Rückkehr, 16.01.2020, S. 1).

Dabei ist den iranischen Behörden bekannt, dass ihre Staatsangehörigen im Ausland eine Konversion als Grund für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorbringen (UK Upper Tribunal, PS (Christianity - risk) Iran CG [2020] UKUT 09046 (IAC), 20.02.2020, Rn. 114). Daher findet bei Personen, bei denen bei ihrer Rückkehr Anhaltspunkte für eine Konversion vorliegen, eine weitergehende Befragung statt. Wenn es sich beim Rückkehrer tatsächlich nicht um einen Christen handelt, wird diese Befragung jedoch üblicherweise allenfalls einige Stunden dauern, ohne dass die Gefahr einer Verfolgungshandlung besteht (UK Upper Tribunal, PS (Christianity - risk) Iran CG [2020] UKUT 00046 (IAC), 20.02.2020, Rn. 115). So wurde den westlichen Botschaften im Iran, die Rückführungen iranischer Staatsangehörigen vor Ort kontrollieren, nach einem Länderreport des Bundesamts vom 01.04.2019 in den letzten zehn Jahren kein Fall der Festnahme eines Konvertiten bei der Einreise gemeldet (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Iran: Lage von im Ausland zum Christentum konvertierter Personen bei Rückkehr, 16.01.2020, S. 1). Wer nach seiner Rückkehr keine mit dem Christentum verbundenen Aktivitäten ausführt, ist für die iranischen Behörden nicht von Interesse (UK Home Office, Christians and Christian converts, 10.05.2019, S. 27).

2. Gemessen an diesen Maßstäben kommt der Klägerin ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. Der Einzelrichter ist gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon überzeugt, dass die Klägerin im Iran aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit Verfolgungshandlungen zu befürchten hat. [...]

b) aa) Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass die Klägerin - jedenfalls mittlerweile - bei einer Rückkehr in den Iran eine Betätigung ihres christlichen Glaubens, die sie für sich als verpflichtend erachtet, um ihre religiöse Identität zu wahren, und die sie der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde, unterdrücken müsste. Dabei sind folgende Erwägungen maßgeblich gewesen:

(1) Die vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid ausgeführten Gründe, weshalb nicht von einer von einer inneren Überzeugung getragenen Konversion auszugehen sei, sind nicht stichhaltig oder überholt. [...]

(2) Der Vortrag der Klägerin ist derart reich an Realkennzeichen gewesen, dass der Einzelrichter zu der Überzeugung gelangt ist, dass er auf einem wahrheitsgemäßen, erlebnisbasierten Geschehen beruht.

So hat die Klägerin nach soeben Ausgeführten eine detaillierte, umfangreiche Geschichte vorgetragen. Diese hat sie in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll widerspruchsfrei wiederholt und ergänzt. Besonders eindrücklich waren die von ihr geschilderten kleineren Komplikationen, beispielsweise der Umstand, dass sie von Deutschland aus ihre Mutter habe erreichen wollen, dann aber ihr Bruder den Hörer übernommen habe. Weiter hat die Klägerin berichtet, zwar bei ihrem Deutschlandbesuch 2015 vom Weintrinken bewegt gewesen zu sein, gleichzeitig aber wegen ihrer vorangegangen Operation selbst nicht getrunken zu haben. Den 2016 durch lebten Traum, den sie in ihrer Anhörung - nach den protokollierten Angaben - lediglich bruchstückhaft und nicht ganz verständlich wiedergegeben hat, hat sie in der mündlichen Verhandlung in freier Rede und flüssig in ihren Sachvortrag eingebettet.

(3) Die Klägerin hat ihren Konversionsprozess nachvollziehbar und eindrücklich beschrieben.

So hat sie ihre erste - noch folgenlose - Berührung mit dem Christentum im Jahr 2015 auf ihrer Deutschlandreise unaufgeregt und sachlich wiedergegeben. Gleichzeitig hat sie erklärt, weshalb sie sich im Iran danach nicht weiter mit dem Christentum hat beschäftigen können. So hat sie erklärt, nicht an Informationen gekommen zu sein und ihr Cousin in Kanada habe ihr aus Sicherheitsgründen vom Besuch von Hauskirchen abgeraten. Die Ambivalenz ihrer damaligen Existenz hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung dadurch verdeutlicht, dass sie dennoch mit der von ihr mit dem Christentum assoziierten Maria-Figur aus Deutschland täglich zu Gott gebetet habe.

Weiter hat die Klägerin über die Wiedergabe ihres Traums und das zufällige Kennenlernen einer Christin dargelegt, wie sie im Iran in ihrem chrislichen Leben hat Fortschritte machen können.

Schließlich hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und schlüssig dargelegt, wie sie ihren Glauben in Deutschland weiterentwickelt hat und wie sich dieser in der regelmäßigen Teilnahme an Gottesdiensten und christlichen Veranstaltungen äußert.

(4) Die Klägerin hat Dokumente - ihre Taufurkunde sowie ein Schreiben ihrer Gemeinde - vorgelegt, die ihren äußerlich sichtbaren Glaubenswandel in Deutschland belegen.

bb) Der Einzelrichter ist davon überzeugt, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgung durch den iranischen Staat drohen würde.

Wie sich aus den oben bereits angeführten Erkenntnismitteln ergibt, würde die Klägerin bereits bei ihrer Einreise nach ihrem Glauben befragt werden. Dabei würde sie bei Bejahung ihres christlichen Glaubens wegen ihrer Konversion zur Überzeugung des Einzelrichters Verfolgungshandlungen durch den iranischen Staat erleiden. Eine Verleugnung ihres Glaubens zur Vermeidung dieser Verfolgungshandlungen ist der Klägerin jedoch nicht zuzumuten.

Weiterhin ist davon auszugehen, dass der iranische Staat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Erfahrung bringen würde, dass die Klägerin im Iran dort für sie verbotene christliche Veranstaltungen besuchen würde, was der Klägerin eine Herzensangelegenheit ist. Auch deshalb hätte sie nach den obigen Erkenntnismitteln Verfolgungshandlungen zu befürchten. Gleichzeitig muss sie auf die für sie elementare Glaubensbetätigung des Besuchs von christlichen Gottesdiensten nicht verzichten. [...]