BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 14.12.2021 - 8368792-423 - asyl.net: M30284
https://www.asyl.net/rsdb/m30284
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für afghanische Familie:

Vor dem Hintergrund der prekären humanitären Situation in Afghanistan ist jedenfalls für besonders vulnerable Personengruppen wie Familien mit minderjährigen Kindern ein Abschiebungsverbot festzustellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Existenzminimum, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Familie, Kinder, besonders schutzbedürftig, Wiederaufgreifensantrag,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

1.

Dem Antrag wird entsprochen. Es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG bezüglich Afghanistans vorliegen.

Unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG kommt aufgrund des vorliegenden Sachverhaltes eine günstigere Entscheidung zugunsten der Antragsteller in Betracht. Daher wird die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG gemäß § 51 VwVfG i.V.m. § 49 VwVfG wiederaufgegriffen. [...]

Der afghanische Arbeitsmarkt ist im Zuge der Wirtschaftskrise seit August 2021 stark eingebrochen. Am 12.09.2021 erklärte das United Nations Development Programme (UNDP), dass 97 % der Afghanen bis Mitte 2022 unter die Armutsgrenze sinken könnten, wenn die Regierung das Einbrechen der Wirtschaft nicht aufhalte. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren. Banken in Kabul gewähren aufgrund der Liquiditätskrise nur eine wöchentliche Abhebung von ca. 230 USD pro Person, weshalb viele Menschen ihr Hab und Gut veräußerten, um davon Nahrung zu kaufen. Das Auswärtige Amt konstatiert, dass durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden die bereits angespannte Wirtschaftslage in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps steht.

Die UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan erklärte am 17.11.2021 unter Bezugnahme auf einen kurz zuvor veröffentlichten UN-Bericht, dass fast jeder zweite Afghane (von ca. 38 Mio.) mit einer Krisen- oder Notstandssituation der Ernährungsunsicherheit konfrontiert ist. Mit Einzug des Winters und dem Verbrauch der sehr begrenzten Lebensmittelvorräte wird befürchtet und prognostiziert, dass 23 Mio. Afghanen in Krisen- oder Notlagen der Ernährungsunsicherheit geraten. Während das Risiko einer Hungersnot früher hauptsächlich in ländlichen Gebieten bestand, sind nun auch die Stadtbewohner betroffen. Zusätzliche humanitäre Hilfsgelder, zur Verhinderung eines wirtschaftlichen Kollapses, durch die Vereinten Nationen oder die EU sind zwar bereits zugesagt, aber im Land noch nicht bzw. nur teilweise angekommen.

Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse kann aber nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK erfüllen (vgl. BVerwG, U. v. 31.01.2013, 10 C 15/12, NVwZ 2013, 1167 ff.; VGH BW, U. v. 24.07.2013, A 11 S 697/13 m. w. N. insbesondere zur einschlägigen EGMR Rechtsprechung), nämlich dann, wenn zu den schlechten humanitären Bedingungen eine besondere individuelle Betroffenheit hinzukommt.

Aufgrund der individuellen Umstände der Antragsteller ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich die Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung außergewöhnlich erhöht und deswegen ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.

Bei den Antragstellern handelt es sich um Eltern von zwei minderjährigen Kindern. Die Antragsteller zählen damit zum Personenkreis der besonders vulnerablen Personen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan kann nicht mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass die Antragsteller bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage wären, sich insoweit eine Existenz aufzubauen, als dass sie sich und ihre minderjährigen Kinder aus eigener Kraft ernähren, versorgen und schützen könnten. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf das Urteil des VG Köln vom 08.09.2020 (Az.: 5 K 6416/17.A) verwiesen. Die darin aufgeführten Gründe für das Kind der Antragsteller treffen auch auf die Antragsteller selbst zu.

Daher war im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen. [...]