VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 21.12.2021 - 3 A 360/21 - asyl.net: M30285
https://www.asyl.net/rsdb/m30285
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für eine Frau aus Afghanistan wegen "westlichen" Lebensstils:

Frauen, deren Identität infolge eines längeren Aufenthalts in Europa "westlich" geprägt worden ist, drohen in Afghanistan Menschenrechtsverletzungen sowie Diskriminierung (unter Bezug auf OVG Niedersachsen, Urteil vom 21.9.2015 - 9 LB 20/14 (Asylmagazin 11/2015, S. 274 ff.) - asyl.net: M23228).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, alleinerziehend, alleinstehende Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, westlicher Lebensstil, soziale Gruppe, Flüchtlingsanerkennung, Taliban,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3b Abs. 4b,
Auszüge:

[...]

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG bilden danach auch solche afghanischen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder denen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Derart in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frauen teilen im erstgenannten Fall einen unveränderbaren gemeinsamen Hintergrund, im zweitgenannten Fall bedeutsame Merkmale Im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG. Sie werden wegen ihrer deutlich abgegrenzten Identität von der afghanischen Gesellschaft als andersartig betrachtet (zu § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylVfG, Nds. OVG, Urt. v. 21.9.2015 - 9 LB 20/14 juris Rn. 26).

Afghanische Frauen, die dieser sozialen Gruppe angehören, können sich je nach den Umständen des Einzelfalls aus begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG außerhalb der Islamischen Republik Afghanistan aufhalten. [...]

Der Einzelrichter geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass afghanische Frauen, deren Identität in der oben beschriebenen Weise westlich geprägt ist, in Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6), drohen. Die ohnehin schwierige Situation der Frauen in Afghanistan hat sich durch die Machtergreifung der Taliban im August 2021 noch verschlechtert.

Ausweislich des (ad hoc-) Berichts des Auswärtigen Amtes über die Lage in Afghanistan vom 22. Oktober 2012 (Stand: 21.10.2021) - im Folgenden: AA - leiten die Taliban ihren Herrschaftsanspruch ausschließlich religiös her, der Emir als "Befehlshaber der Gläubigen" führt seinem Verständnis nach die Herrschaft im Sinne Gottes und des Volkes aus. Demokratische Wahlen oder andere säkulare Prozesse sind aus diesem Verständnis heraus nicht notwendig, aber auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen (AA, Seite 4). Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht (AA, Seite 13). [...]

Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts sind unter Frauen, die nach der öffentlichen Wahrnehmung gegen die sozialen Sitten verstoßen und damit einer geschlechtsspezifischen, von den individuellen Umständen abhängigen Verfolgung unterliegen können, solche Frauen zu verstehen, deren Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition und dem Gesetz auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 21.1.2014 - 9 LA 60/13 - Juris Rn. 6). Hierzu können nicht nur Frauen zählen, die - wie z.B. Parlamentarierinnen, Beamtinnen, Journalistinnen, Anwältinnen, Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen oder Lehrerinnen - Aktivitäten im öffentlichen Leben entfalten, damit dem traditionellen Rollenbild widersprechen und von konservativen Elementen in der Gesellschaft systematisch eingeschüchtert, bedroht, attackiert und gezielt getötet werden. Vielmehr verstoßen nach der öffentlichen Wahrnehmung in der afghanischen Gesellschaft auch solche Frauen gegen die sozialen Sitten, deren Identität derart westlich geprägt ist, dass ihr Verhalten deutlich vom Rollenbild der Frau In der afghanischen Gesellschaft abweicht. Nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Urteil vom 20.7.2010 - 23505/09, N. v. Sweden - HUDOC Rn. 55) werden afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben - z.B. solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind - in der Islamischen Republik Afghanistan nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen und können deshalb Opfer von Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen können (so auch Österr. BVerwG, Erkenntnis vom 31.7.2015 - W175 2100068-1 - veröffentlicht unter www.ris.bka.gv.at; siehe ferner österr. BVerwG, Erkenntnisse vom 29.4.2015 - W120 1428376-3 -; vom 7.5,2015 - W175 2011342-1 -; vom 19.5.2015 - W191 2104127-1 -; vom 8.6.2015 - W202 1411035-3 -; vom 12.6.2015 - W197 2016697-1 -; vom 18.6.2015 - W163 2102498-1 -; vom 30.6.2015 - W191 2105467-1/5E -; vom 13.7.2015 - W200 1415926-1 vom 31.7.2015 - W175 2100069-1, jeweils veröffentlicht unter www.ris.bka.gv.at). Allerdings ist die Annahme eines westlichen Lebensstils nach § 3b Abs. 1 Nr. 4a Halbsatz 1 AsylG nur beachtlich, wenn er die betreffende Frau in ihrer Identität maßgeblich prägt, d.h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht, und eine Aufgabe dieser Lebenseinstellung nicht (mehr) möglich oder zumutbar ist.

Ob eine in ihrer Identität westlich geprägte afghanische Frau im Fall ihrer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ausgesetzt ist, bedarf einer umfassenden Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalls. Dabei ist die individuelle Situation der Frau nach ihrem regionalen und sozialen, insbesondere dem familiären Hintergrund zu beurteilen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 21.1.2014, a.a.O., Rn. 5 m.w.N.),

Der Einzelrichter hat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin eine solche nachhaltige Prägung erfahren hat. Sie bringt sich privat, beruflich und ehrenamtlich in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ein. Ihr Verhalten und ihr Auftreten unterscheidet sich nicht von anderen jungen Frauen in Deutschland. Sie ist lebensbejahend, vielseitig interessiert und möchte auf der Grundlage ihrer hier erworbenen Schulbildung zukünftig einem Beruf nachgehen.

Sie hat sich nach Eindruck des Einzelrichters sehr gut in die deutsche Gesellschaft integriert. Sie ist seit 2017 im Besitz des Zertifikats "telc Deutsch B1" und konnte sich mühelos - ohne nennenswerte Unterstützung des Dolmetschers - in der mündlichen Verhandlung mit dem Gericht verständigen. Dabei hat die Klägerin die Fragen des Gerichts ausführlich, anschaulich und im Kontext beantwortet. Aufgrund ihrer sprachlichen Fähigkeiten bringt sich die Klägerin ehrenamtlich für den Landkreis ... als Sprachvermittlerin für Ausländer ein. Ferner ist im Jahr 2020 zur 2. Kassenprüferin der Initiative … e.V. in ... gewählt worden. Die Klägerin hat unter Vorlage entsprechender Zeugnisse belegt, dass sie während ihres etwa 6-jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland den Hauptschulabschluss mit guten und sehr guten Noten abgeschlossen hat. Sie hat Praktika bei einer Zahnarztpraxis und einem Friseursalon absolviert und hat zuletzt bis Anfang des Jahres 2021 im Groß- und Außenhandel der Fördertechnik … als Verkäuferin gearbeitet. Im Anschluss hat die Klägerin die Realschule in ... (Berufsfachschule - Wirtschaft -) besucht und im Juli 2021 den Realschulabschluss erreicht. Sie möchte wieder einem Beruf nachgehen und könnte sich vorstellen, als Kosmetikerin zu arbeiten.

Ihrem äußeren Erscheinungsbild nach unterscheidet sich die Klägerin nicht von jungen deutschen Frauen. Sie trug in der mündlichen Verhandlung - wie auf allen in den Akten befindlichen Fotos - eine Kleidung wie sie auch von deutsche Frauen ihres Alters getragen werden. Dabei ist nicht erkennbar, dass sie die Kleidung allein aus Gründen des Verfahrens bewusst westlich getragen hat. Sie hat dem Gericht glaubhaft geschildert, dass sie seit etwa 2 Jahren kein Kopftuch bzw. Schleier trägt.

Auch hat sie nach Überzeugung des Einzelrichters die Lebensgewohnheiten vieler deutscher junger Frauen angenommen. Die Klägerin hat einen Kreis an Freundinnen, mit denen sie sich regelmäßig auf einen Kaffee trifft. Ihr bereitet es Freude, ihre Freundinnen immer mal wieder zu schminken. Sie treibt Sport. Neben Schwimmen und Fahrradfahren praktiziert sie seit etwa 2 Jahren Yoga. Während ihrer Schulzelt hat die Klägerin zudem Fußball gespielt. Darüber hinaus malt sie gern. Sie schildert anschaulich und engagiert, dass sie im Rahmen eines Wettbewerbs der Deutschen Bahn ein Bild in einem Tunnel ... mit einem Pinsel gemalt hat. Das Bild zeigt eine Frau, die auf ihre Hand gestützt nachdenke und aus dem Zugfenster schaut. Für dieses Bild hat die Klägerin den 1. Preis erhalten. [...]

Die Klägerin ist darüber hinaus ihren glaubhaften Angaben zufolge nicht mehr in den Traditionen und Gebräuchen des Islams - der Staatsreligion der Islamischen Republik Afghanistan verhaftet. Sie bringt ihr Unverständnis über das moslemische Rollenbild der Frauen in Afghanistan zum Ausdruck. Der muslimische Glauben in Afghanistan verleihe den Männern aus ihrer Sicht eine derartige Macht, die Frauen kleinzuhalten, und reduziert sie auf das "Kinder kriegen" und "den Haushalt". Angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan fühlt sie mit den Frauen. Damit hat die Klägerin eine erhebliche Distanz zu den Glaubenstraditionen und dem religiösen Leben in ihrem Herkunftsland zum Ausdruck gebracht. Das wird ferner dadurch bestätigt, dass die Söhne der Klägerin am christlichen Religionsunterricht in der Schule teilnehmen.

Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass die westliche Lebensweise, die sich die Klägerin angeeignet hat, auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin ihren glaubhaften Angaben zufolge, die mit denen ihres Ehemannes in dessen Asylverfahren übereinstimmen, nur bis zu ihrem fünften Lebensjahr in Afghanistan lebte. Während Ihres anschließenden Aufenthalts Im Iran verfolgte sie bereits einen weniger konservativen Lebensstil als er in Afghanistan üblich war. So konnte sie die Schule bis zur 7. Klasse besuchen und die Berufsausbildung zur Kosmetikerin abschließen. Diesen Beruf hat sie dort sechs Monate lang als Angestellte ausgeübt. Im Alter von 21 Jahren reiste die Klägerin sodann in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie seit nunmehr sechs Jahren lebt. Hier hat sie die maßgebend prägende Zelt als Jugendliche und junge Erwachsene verbracht und ist nach dem Eindruck des Einzelrichters zu einer selbstbewussten, durchsetzungsstarken und emanzipierten Persönlichkeit herangewachsen. [...]