VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 20.01.2022 - A 11 K 11463/18 - asyl.net: M30372
https://www.asyl.net/rsdb/m30372
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für geschiedene Frau aus dem Iran:

1. Eine geschiedene, alleinstehende und psychisch stark belastete Frau und Mutter eines minderjährigen sowie eines noch ungeborenen unehelichen Kindes wird angesichts der wirtschaftlichen Situation im Iran ohne familiäres Netzwerk keine Lebensgrundlage sichern können.

2. Im Iran bestehen Unterstützungsmöglichkeiten für alleinstehende, von häuslicher Gewalt betroffene Frauen. Diese decken den bestehenden Bedarf jedoch nicht ab.

3. Durch die Corona-Pandemie hat sich die wirtschaftliche Situation von Frauen besonders verschlechtert, da sie stärker als Männer von Entlassungen betroffen sind. Unter diesen wirtschaftlichen Bedingungen wird eine schwangere, alleinstehende Frau noch einmal verschärft leiden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, minderjährig, Kindeswohl, nichteheliches Kind, Arbeitslosigkeit, Corona-Virus, sexuelle Gewalt, psychische Erkrankung, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

1. Nach § 60 Absatz 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]

Diese hohen Anforderungen sind im vorliegenden Fall erfüllt. Sowohl bei der alleinstehenden und -erziehenden, psychisch instabilen, über kein familiäres Netzwerk im Herkunftsland verfügenden und derzeit schwangeren Klägerin zu 1, als auch bei dem minderjährigen Sohn und Kläger zu 2 ist bei einer Rückkehr in den Iran eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu befürchten. Die die Kläger im Herkunftsland zu erwartenden schlechten Lebensbedingungen und die daraus für sie resultierenden Gefährdungen weisen im vorliegenden Einzelfall eine Intensität auf, nach der auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer solchen unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.

Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Klägerin zu 1 - als alleinstehende und geschiedene, psychisch stark belastete Frau und Mutter eines minderjährigen und eines noch ungeborenen, unehelichen Kindes - und dem noch minderjährigen Kläger zu 2 angesichts der wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Situation im Iran und ohne familiäres Netzwerk eine Sicherung der Lebensgrundlage nicht gelingen würde.

Zwar ist es im Iran so, dass auch (alleinstehende) Frauen nicht völlig schutzlos gestellt sind, sondern vielmehr sind entgegen häufig geäußerter Kritik im Iran ein vielfältiges Angebot staatlicher und zivilgesellschaftlicher Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen, die sich beispielsweise auch um Gewaltopfer kümmern, besteht, denen ein aufrichtiges Bemühen um pragmatische Lösungen für sozial benachteiligte und gewaltleidende Frauen und Kinder zugutezuhalten ist. Insgesamt trifft aber die von zivilgesellschaftlichen wie staatlichen Akteuren vorgebrachte Kritik zu, dass die verfügbaren Schutzmechanismen den tatsächlichen Bedarf nicht abzudecken vermögen (Schweizerisches Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartment - Staatssekretariat für Migration vom 27.02.2019, Focus Iran, Häusliche Gewalt, S. 32 ff.). Auch sind in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht iranische Frauen allgemein vielfältigen Diskriminierungen unterworfen. In wirtschaftlicher Hinsicht sind ihre Möglichkeiten durch den starken Einfluss konservativer Vertreter auf die Regierungspolitik ebenfalls beschränkt; immer wieder wird die traditionelle Rolle der Frau in der islamischen Familie betont; dementsprechend waren im April 2019 65,9 % der Arbeitslosen im Iran Frauen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 05.02.2021, S. 17 f.). Darüber hinaus hat sich auch die allgemein sowie insbesondere hinsichtlich Frauen ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage im Iran durch die Corona-Pandemie weiter verschlechtert (Rückgang des Bruttoinlandprodukts, strukturelle Schwierigkeiten und Währungsverluste). Dazu zählt auch die extrem hohe Arbeitslosigkeit (nach staatlichen Angaben leicht gefallen auf ca. 12 %; Jugendarbeitslosigkeit: etwa 25 %; jeder zweite Hochschulabsolvent ist arbeitslos). Die offiziellen Zahlen blenden dabei sogar jede Person, die mehr als eine Stunde pro Woche arbeitet oder nicht nach Beschäftigung sucht, aus. Tatsächliche Zahlen dürften daher weit höher liegen. Die Preise für viele Alltagsprodukte, v.a.  Lebensmittel und jegliche Importprodukte, sind noch deutlich stärker gestiegen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 05.02.2021, S. 5, 7). Zusätzlich sind Frauen seit dem Beginn der Corona-Krise stärker als Männer vom Verlust ihres Arbeitsplatzes betroffen. Bereits zum Ende des Frühjahres 2020 haben 145.000 Frauen offiziell ihren Arbeitsplatz verloren. Da Arbeitgeber durch die Pandemie wirtschaftlich unter Druck geraten sind, versuchen diese, den ausbleibenden Umsatz durch eine Reduzierung der Lohnzahlungen auszugleichen. Am stärksten davon, aber auch vom Verlust des Arbeitsplatzes, betroffen sind die Lohnzahlungen von Frauen (BAMF, Länderreport 28, Iran, Frauen, Stand: 07/2020, S. 11). Laut offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosenrate bei Frauen bei 20,8 % (1,11 Millionen). Insbesondere hat die hohe Arbeitslosigkeit im Land auch Einfluss auf die wirtschaftliche Situation von alleinstehenden Frauen genommen; u.a. sieht das Gesetz nicht die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern vor. Außerdem haben selbst gut qualifizierte Frauen Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden (vgl. hierzu Bundesrepublik Österreich, BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran, 22.12.2021, S. 63 f.). Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage ist anzunehmen, dass eine geschiedene, schwangere Frau mit minderjährigem Sohn hierunter nochmals in verschärfter Weise zu leiden hat, da sie immobiler und auch sonst unflexibler ist und keine Gestattungen eines Mannes aufweisen kann. Ebenso ist davon auszugehen, dass der minderjährige Kläger zu 2 im Iran nicht fähig wäre, für sich bzw. seine Mutter und das noch ungeborene Kind aufzukommen; bereits in Deutschland ist sein Alltag zudem von der Sorge um seine Mutter geprägt.

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung auch nicht feststellen können, dass die Kläger im Iran über ein familiäres Netzwerk verfügen, über das sie erforderlichenfalls Unterstützung und Hilfe erlangen könnten. [...]

Insbesondere unter Einbezug der psychischen Beschwerden der Klägerin zu 1 ist darüber hinaus nicht anzunehmen, dass die Kläger im Iran zur Bewältigung der vorstehenden Herausforderungen imstande sein würden. Näher liegt, dass sich das aufgrund der Instabilität der Klägerin zu 1 bereits in Deutschland als sehr schwierig erweisende Leben unter den ungünstigeren Bedingungen im Iran weiter verschlechtern und zu einer Verelendung der Kläger führen würde. [...]