VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 13.09.2021 - 5a 6534/17.A - asyl.net: M30402
https://www.asyl.net/rsdb/m30402
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für ehemaligen Mitarbeiter des obersten Gerichtshofs in Afghanistan:

1. Einem ehemaligen Mitarbeiter des obersten Gerichtshofs in Afghanistan, der bereits vor der Machtübernahme der Taliban durch diese verfolgt worden ist, droht bei einer Rückkehr eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.

2. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Taliban den Personen, die sie bereits vor der Machtübernahme im August 2021 als Feinde betrachtet haben, nunmehr nicht mehr feindlich gesinnt sind. Angesichts des tatsächlichen Verhaltens der Taliban kann den Angaben über eine Amnestie für die Gegner der Taliban nicht getraut werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufsgruppe, Richter, Taliban, Flüchtlingsanerkennung, Asylberechtigung,
Normen: § 3 AsylG,
Auszüge:

[...]

Das Gericht geht davon aus, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in gleich gewalttätiger Weise Verfolgung drohen wird. Der Kläger hat vor seiner Ausreise aus der Sicht der Taliban durch seine Tätigkeit am obersten Gerichtshof Afghanistans, in deren Rahmen er sich geweigert hat, sich von den Taliban rekrutieren zu lassen, eine feindliche Einstellung zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus hat der Kläger durch seine Flucht und seinen anschließenden Aufenthalt in Europa in den Augen der Taliban weiterhin dokumentiert, dass er den Zielen und Vorstellungen der Taliban mehr als ablehnend gegenüber steht. Angesichts der der Taliban eigenen Brutalität und Menschenverachtung stand schon bis zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Mitte August 2021 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass diese Organisation nicht zuletzt auch zur Abschreckung anderer an dem Kläger brutale Gewalttaten verüben werde.

Anhaltspunkte dafür, mit der Machtübernahme habe sich die Situation für die diejenigen, die die Taliban als ihre Feinde betrachten, geändert, sind nicht ersichtlich. Auf Menschenverachtung beruhende Grausamkeit und Brutalität sind seit Jahrzehnten wesentliche Charakteristika der Taliban. Allein deshalb spricht schon alles dafür, dass diese Organisation auch die neu gewonnene Herrschaft mit den ihr geläufigen "Mitteln" durchsetzen und festigen wird. Das Gericht übersieht dabei nicht, dass führende Angehörige der Taliban sich im Sinne einer Amnestie für ihre Gegner geäußert haben (vgl. z.B. Taliban verkünden Kriegsende und Amnestie, tagesschau.de am 18. August 2021).

Angesichts des Verhaltens der Taliban in der Vergangenheit und unter Berücksichtigung der aktuellen Berichterstattung über das tatsächliche Verhalten der Taliban ist das Gericht indessen davon überzeugt, dass eine diesen Äußerungen entsprechende Absicht der Taliban tatsächlich nicht besteht (vgl. z.B. Weniger Frauen, keine Unterhaltung: Taliban übernehmen Medien-Kontrolle in Afghanistan, md.de am 20.8.2021; Straf- und Überwachungssystem mit Religionspolizei? Wie Afghanistan unter den Taliban aussehen könnte, md.de am 20. August 2021; UN warnen vor Racheaktionen der Taliban, Tageschau.de am 20. August 2021; Afghanistan: Taliban verantwortlich für brutales Massaker an Hazara-Männern, amnesty.de am 20. August 2021; Nach der Machtübernahme der Taliban "Afghanistan leidet noch unter einer ganz anderen Katastrophen", deutschlandfunk.de am 20. August 2021; UN kritisieren Menschenrechtsverletzungen, tagesschau.de am 24. August 2021).

Die demnach bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung des Klägers knüpft im vorliegenden Fall an das Merkmal der politischen Überzeugung im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 an, wobei es hinreicht, dass diese Überzeugung dem Kläger von den Verfolgern zugeschrieben wird, § 3b Abs. 2 AsylG an.

Handelte es sich bei den Taliban bisher um einen nichtstaatlichen Verfolgungsakteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, gegenüber dem schon der bis zur Machtübernahme durch die Taliban bestehende afghanische Staat selbst an Orten, in denen er über Gebietsgewalt verfügt hatte, nicht in der Lage war, seine Bevölkerung vor Angehörigen der Taliban zu schützen (vgl. zu einer solchen Gefährdung selbst in Kabul auch: Dr. M. Danesch, Auskunft an den Hess. Verwaltungsgerichtshof vom 3. September 2013 zum Az. 8 A 1197/12.A; ACCORD, Afghanistan-Dokumentation des Expertengespräches mit Thomas Ruttig und Michael Daxner vom 4. Mai 2016, wonach die Taliban weiterhin landesweit operieren und keine Gebiete existieren, die längerfristig als "sichere Zonen" gelten können, abrufbar über ecoi.net; Corinne Troxler, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update vom 30. September 2016, S. 3 f.), sind die Taliban seit ihrer Machtübernahme nunmehr selbst als staatlicher Akteur im Sinne von § 3 c Nr. 1 AsylG einzustufen. Aus diesem Grund bestand bis zur Machtübernahme durch die Taliban und besteht seither für den Kläger auch keine interne Schutzalternative im Sinne von § 3e AsylG.

Schließlich liegt nach dem Vorstehenden auch die von § 3a Abs. 3 AsylG geforderte Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung auf der Hand. [...]