VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 26.11.2021 - 3 K 302/20 - asyl.net: M30437
https://www.asyl.net/rsdb/m30437
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für alleinstehende Frau aus Afghanistan:

Für eine alleinstehende Frau, die längere Zeit im westlichen Ausland verbracht hat und das hiesige Verständnis der Rolle der Frau in der Gesellschaft angenommen hat, besteht bei einer Rückkehr nach Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls ohne männlichen Schutz die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Die Situation für Frauen, die unabhängig von Männern leben wollen, hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan verschlechtert.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, westlicher Lebensstil, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Das Gericht geht davon aus, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG droht. [...]

Es besteht für die Klägerin als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer geschlechtsspezifischen Verfolgung. Die Einzelrichterin geht angesichts der derzeitigen Erkenntnismittellage davon aus, dass jedenfalls alleinstehende afghanische Frauen, die über keinen männlichen Schutz verfügen und längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben, in der Islamischen Republik Afghanistan je nach den Umständen des Einzelfalls auch ohne eine Vorverfolgung oder Vorschädigung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure zumindest in der Form von Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen, die in ihrer Kumulierung einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte gleichkommen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG), ausgesetzt sein können. Insbesondere können ihnen die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und sonstige Handlungen, die an ihre Geschlechtszugehörigkelt anknüpfen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG), drohen. Insoweit ist von einem Verfolgungsgrund nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG auszugehen.

Bereits vor der (erneuten} Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 wurden Frauen und Mädchen trotz der Stärkung der Rechte der Frauen in der afghanischen Verfassung und Gesetzgebung nach wie vor in der afghanischen Gesellschaft sowie von der Polizei und Justiz schwer benachteiligt. Mochte der afghanische Staat zwar rechtlich verpflichtet gewesen sein, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken, mangelte es jedoch oftmals in der Praxis an der Umsetzung dieser Rechte. Frauen wurden in der afghanischen Gesellschaft nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangte von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Innerhalb der Familie hatten sie sich dem Willen der männlichen Familienmitglieder zu unterwerfen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten waren häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Das Personenstandsgesetz enthielt diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Sorgerecht, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Frauen konnten sich, abgesehen von urbanen Zentren wie z.B. Kabul oder Herat, grundsätzlich nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Selbst die Einhaltung strenger Kleidungsnormen schützte sie nicht vor Belästigung. Die Entwicklung einer eigenständigen Lebensperspektive war Frauen ohne familiäre Unterstützung kaum möglich. Die grundsätzliche Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variierte je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Berufstätige Frauen, deren Anteil an der Erwerbsbevölkerung nur 22 Prozent betrug, sahen sich mit Beleidigungen, sexueller Belästigung und Verfolgung konfrontiert. Allgemein ist sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt unabhängig von der Ethnie weit verbreitet. Frauen werden Opfer von Zwangsverheiratung, Vergewaltigung, Entführung, Ehrenmorden und häuslicher Gewalt. Dies betrifft insbesondere alleinstehende Frauen und Frauen ohne männlichen Schutz. Frauen, die in der Öffentlichkeit eine aktive Rolle einnahmen und damit gegen die konservativen Wertevorstellungen verstießen, sahen sich mit Einschüchterungen, Drohungen und Gewalt bis zur Tötung konfrontiert (vgl. zum Vorstehenden Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 15.07.2021, S. 12 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update v. 31.10.2021, S. 9; VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 -, juris Rn. 25 m.w.N.; VG Bremen, Urt. v. 11.05.2020 - 4 K 1753/17 - m.w.N.).

Nach den dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen hat sich diese für Frauen in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt einfache Situation seit der Machtübernahme der Taliban extrem verschlechtert. Zwar versprachen Sprecher der Talibanführung, Menschenrechte einzuhalten, einschließlich der Rechte von Frauen und Mädchen, soweit diese nicht dem islamischen Recht widersprechen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation - Afghanistan, vom 16.09.2021, S. 82; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update v. 31.10. 2021, S. 10). Nicht nur die vagen Formulierungen, sondern insbesondere Berichte über Beschäftigungsverbote, Zwangsverheiratungen (insbesondere von jungen Mädchen), Misshandlungen, Inhaftierungen und Hinrichtungen sowie massive Beschränkungen der Bewegungsfreiheit (insbesondere Verbote; das Haus ohne Hidschab und ohne männlichen Begleiter zu verlassen) aus verschiedenen Landesteilen lassen jedoch die Glaubwürdigkeit dieser Aussagen in Frage stellen (vgl. hierzu ausführlich VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 11.10.2021 – A 15 K 4778/17 -, juris Rn. 26 m.w.N.). Bereits im Jahr 2020 dokumentierte UNAMA in den von den Taliban kontrollierten Gebieten Vorfälle von Tötungen und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung von Frauen für angebliche Übertretungen von moralischen oder geschlechtsspezifischen Normen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update v. 31.10.2021, S. 10). Die vorherrschende Atmosphäre der Angst und Verunsicherung führt dazu, dass Frauen schrittweise aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt werden und nur noch über einen sehr eingeschränkten Zugang zu Bildung, Gesundheit, Schutz, Politik und Arbeit verfügen. Die aus letzterem resultierenden Einkommensverluste führen zu starken Abhängigkeiten und lösen bei vielen Ängste und Depressionen aus. Da eine Vielzahl von Frauenhäusern, die bereits vor der Machtübernahme der Taliban seitens konservativer und patriarchalischer Kräfte bedroht wurden, seit August 2021 geschlossen wurden, gibt es für Frauen in Afghanistan kaum noch Zufluchtsorte (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, Update v. 31.10.2021, S. 11).

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen erlauben es mithin weder die frauenverachtenden Vorschriften der Taliban, noch die allgemeine gesellschaftliche Situation und insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage alleinstehenden Frauen ein menschenwürdiges Leben. Nach den derzeitigen Verhältnissen in Afghanistan ist für Frauen ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 16.07.2020, S. 13 ff.). Eine alleinstehende Frau in Afghanistan ohne männlichen Schutz kann und darf sich derzeit in Afghanistan kaum bewegen. Sie hat so gut wie keine Möglichkeit, Arbeit zu finden und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen oder gar Unterkunft zu finden (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 11.10.2021 - A 15 K 4778/17 - juris Rn. 27). Es ist nicht erkennbar, dass sich die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan in naher Zukunft dauerhaft verbessern wird.

Zwar kann hieraus zur Überzeugung des Gerichts nicht der Schluss gezogen werden, dass jede afghanische Frau im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer geschlechtsspezifischen Verfolgung ausgesetzt wäre. Vielmehr sind bei der Beurteilung, ob eine geschlechtsspezifischen Verfolgung vorliegt, die konkreten Umstände des Einzelfalles, d.h. die individuelle Situation der Frau nach ihrer Stellung und dem regionalen und sozialen, insbesondere familiären Hintergrund zu berücksichtigen (vgl. VG Bremen, Urt. v. 11.05.2020 - 4 K 1753/17 -, m.w.N.).

Hiervon ausgehend ergibt sich bei einer umfassenden Gesamtwürdigung aller individuellen Umstände des Einzelfalls für die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr: Bei der Klägerin handelt es sich um eine junge, alleinstehende Frau "im heiratsfähigen Alter". Gefahrerhöhend kommt hinzu, dass sie bereits mit elf Jahren aus Afghanistan ausgereist ist und die wesentlich prägenden Jahre ihrer Adoleszenz in Europa, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland und somit in einem Kulturkreis verbracht hat, der sich hinsichtlich des Verständnisses der Rolle der Frau in der Gesellschaft gravierend von demjenigen Afghanistans unterscheidet. Das hiesige Rollenverständnis hat die Klägerin auch angenommen. So hat sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben, sich ein Leben in Afghanistan wegen der dort geltenden Gesellschaftsordnung nicht vorstellen zu können. Sie sei für eine Gleichberechtigung der Geschlechter und wolle nach dem Schulabschluss ein Medizinstudium beginnen. Vor Abschluss ihres Studiums wolle sie weder heiraten noch Kinder kriegen. Sie wünsche sich einen Partner, der sie beruflich und im Haushalt unterstützt. Ein derartiges Selbstverständnis einer Frau wird in der afghanischen Gesellschaft auf Ablehnung stoßen. Die Klägerin ist ohne männlichen Schutz und verfügt in Afghanistan auch sonst über keine Unterstützung durch ein hinreichend tragfähiges familiäres Netzwerk. Es ist nicht erkennbar, dass der noch in Afghanistan verbliebene Onkel der Klägerin, selbst wenn er es wollte, der "westlich geprägten" Klägerin im Hinblick auf die Verhältnisse in der afghanischen Gesellschaft ausreichenden Schutz vor Zwangsheirat, Übergriffen etc. bieten könnte.

Die Klägerin muss sich auch nicht auf eine interne Schutzalternative im Sinne des § 3e AsylG verweisen lassen. Mit dem Zusammenbruch der bisherigen Regierung, der Flucht der Regierungsspitze und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Taliban am 15.08.2021, der Ausrufung des islamischen Emirats Afghanistan sowie der Vorstellung der neuen Regierung am 07.09.2021 sind die Taliban nunmehr als staatlicher Akteur im Sinne von § 3c Nr. 1 AsylG anzusehen, so dass eine unmittelbar staatliche Verfolgung vorliegt. Die Frage des internen Schutzes in anderen Landesteilen stellt sich damit nicht (vgl. VG Freiburg (Breisgau), Urt. v. 11.10.2021 – A 15 K 4778/17 - juris Rn. 32). Unabhängig hiervon wäre die Klägerin - insbesondere angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Afghanistan (vgl. hierzu VG Bremen, Urt. v. 08.11 .2021 - 3 K 1578/17) sowie aufgrund der durch die Taliban in einigen Landesteilen ausgesprochenen Beschäftigungsverbote für Frauen - als alleinstehende Frau ohne ein hinreichend tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk nicht in der Lage, das notwendige Existenzminimum für sich zu erwirtschaften. Vor dem Hintergrund der schlechten humanitären Verhältnisse ist der Klägerin bereits mit dem angefochtenen Bescheid vom 31.01.2020 durch das Bundesamt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zugesprochen worden. [...]