VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 13.01.2022 - 2 A 242/18 - asyl.net: M30532
https://www.asyl.net/rsdb/m30532
Leitsatz:

Anforderungen an ein Asylgesuch zur Zuerkennung von Familienasyl oder Familienflüchtlingsschutz

1. Ein allein auf die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung gerichteter Antrag erfüllt nicht die Anforderungen an ein Asylgesuch im Sinne des § 26 Abs. 3 AsylG.

2. Für ein Asylgesuch zur Gewährung von Familienasyl bzw. Familienflüchtlingsschutz sind Angaben zur persönlichen Verfolgungssituation des Schutzsuchenden nicht erforderlich.

3. Ein Asylgesuch im Sinne von § 13 Abs. 1 und § 26 Abs. 3 AsylG kann auch durch einen bevollmächtigten Vertreter gestellt werden.

4. Der Wirksamkeit eines von einem Vertreter gestellten Asylgesuchs steht nicht entgegen, dass der Schutz­suchende im Zeitpunkt des Gesuchs noch nicht in das Bundesgebiet eingereist war.

5. Ob ein Asylgesuch im Sinne der §§ 13 und 26 AsylG vorliegt, entscheidet sich nicht nach Verschuldens­kriterien und insbesondere nicht danach, ob der Schutzsuchende es zu vertreten hat, dass ein Asylgesuch nicht schon früher oder klarer geäußert worden ist.

6. Die Regelung in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 Alt. 2 AsylG ist analog anzuwenden, wenn das Asylgesuch vor und in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise des Schutzsuchenden gestellt worden ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Familienschutz, Eltern, minderjährig, Vertretenmüssen, Asylantrag, Unverzüglichkeit,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3, AsylG § 13 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

22 Für einen Asylantrag der Eltern, der die von der Schutzberechtigung eines Kindes abgeleitete Zuerkennung des Familienflüchtlingsschutzes rechtfertigen kann, reicht ein formloses Asylgesuch aus; es muss sich aber um ein Asylgesuch handeln (vgl. EuGH, a.a.O., Rn. 49 und 51 f. sowie Marx, a.a.O., § 13 Rn. 18 und 6 ff.). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut und der Systematik der §§ 26, 14 und 13 AsylG. Danach ist zwar kein Asylantrag im Sinne des § 14 AsylG erforderlich, der bei der zuständigen Außenstelle des Bundesamtes zu stellen ist. Es muss aber eine Erklärung vorliegen, die ihrem Inhalt nach als Asylgesuch anzusehen ist (vgl. § 13 Abs. 1 AsylG). Für die in Zweifelsfällen erforderlich werdende Auslegung von Erklärungen gilt die Regelung in § 133 BGB entsprechend (vgl. auch Marx, a.a.O., § 13 Rn. 3). Ein Asylgesuch liegt danach allgemein vor, wenn der Erklärung nach dem objektiven Empfängerhorizont unabhängig von der ausdrücklich verwandten Formulierung der Wille zu entnehmen ist, Verfolgungsschutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AsylG zu suchen. Den Begriff "Asyl" muss der Schutzsuchende dafür nicht zwingend verwenden (vgl. Marx, a.a.O., § 13 Rn. 3). Für ein Gesuch auf Elternasyl oder Elternflüchtlingsschutz genügt es, wenn der Erklärung zu entnehmen ist, dass ein vom Kind abgeleiteter Schutzanspruch nach § 1 Abs. 1 AsylG geltend gemacht wird (vgl. Treiber, a.a.O., § 13 Rn. 45 ff.). Dagegen liegt kein Asylgesuch im Sinne des § 26 Abs. 3 und 5 AsylG vor, wenn die Auslegung nach den dargestellten Maßstäben ergibt, dass die Eltern mit der Erklärung ausschließlich andere Rechte begehren.

23 Danach liegt ein Asylgesuch zur Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz zwar nicht in dem vom Kläger gestellte Visumsantrag und dem Schreiben seines damaligen Anwalts vom 26. Oktober 2017 (a). Ein Asylgesuch hat der Kläger aber mit dem Anruf seines Bruders bei der Ausländerbehörde am 22. Dezember 2017 gestellt (b). Zu diesem Zeitpunkt war seine Tochter noch minderjährig. [...]

25 Fraglich ist schon, ob ein Asylgesuch überhaupt vom Ausland aus – in einer deutschen Auslandsvertretung – gestellt werden kann (dagegen z.B. VG Aachen, Urteil vom 05.03.2020 - 5 K 2046/18.A -, juris Rn. 26; zum Streitstand s. Treiber in: GK-AsylG, Stand: Oktober 2021, § 13 Rn. 85 ff. m.w.N.). Das Gericht kann diese Frage für den vorliegenden Fall offenlassen. Ein allein auf die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung gerichteter Antrag erfüllt die Anforderungen an ein Asylgesuch im Sinne des § 26 Abs. 3 und 5 AsylG jedenfalls nicht (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 31.07.2019 - 14 A 3749/18.A -, juris Rn. 17 ff.; VG Braunschweig, Urteil vom 20.11.2019 - 2 A 268/18 -, n.v.; entsprechend für die Auslegung eines Antrags auf Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen auch Nds. OVG, Beschluss vom 01.07.2019 - 9 LA 87/19 -, juris Rn. 11; s. auch Epple in: GK-AsylG, Stand: Oktober 2021, § 26 Rn. 32). [...]

29 b) Ein Asylgesuch im Sinne des § 26 Abs. 3 und 5 AsylG ist aber den Ausführungen zu entnehmen, die der Bruder des Klägers nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung im Rahmen seines Telefongesprächs vom 22. Dezember 2017 gegenüber der Sachbearbeiterin der Ausländerbehörde gemacht hat.

30 Der Bruder des Klägers hat in dem Gespräch ausdrücklich auf den Flüchtlingsstatus seiner Nichte, der Tochter des Klägers, hingewiesen und der Sachbearbeiterin mitgeteilt, sein Bruder wolle denselben Status wie seine Tochter erhalten. [...]

31 Nach dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont mussten die Angaben des Bruders in dem Telefongespräch als Asylgesuch im Sinne des § 26 Abs. 3 und 5 AsylG verstanden werden. Der Bruder des Klägers hat hinreichend deutlich gemacht, dass es dem Kläger eben nicht allein um einen Aufenthaltstitel geht. Durch den Hinweis auf den Flüchtlingsstatus der Tochter und den Willen des Klägers, denselben Status zu erreichen, ergaben sich objektiv ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger auch asylrechtliche Schutzrechte geltend machen will, die an den Schutzstatus seiner Tochter anknüpfen. Dies genügt für die Annahme eines Asylgesuchs zur Zuerkennung von Familienflüchtlingsschutz (s. auch VG Augsburg, Urteil vom 15. Februar 1996 - Au 8 K 95.30729 -, juris Rn. 12). Angaben zur persönlichen Verfolgungssituation des Schutzsuchenden sind dafür nicht erforderlich. Für die Auslegung als Asylgesuch spricht außerdem, dass der Bruder des Klägers in dem Telefonat nach seinen glaubhaften Angaben auch auf die in wenigen Tagen eintretende Volljährigkeit der Tochter hingewiesen hat, eine Tatsache, die für die Gewährung der Schutzrechte nach § 26 AsylG von Bedeutung ist.

32 Dass das Gesuch gegenüber der Ausländerbehörde geäußert worden ist, steht dem nicht entgegen. Die Ausländerbehörde war verpflichtet, das Asylgesuch an die zuständigen Stellen weiterzuleiten, der förmliche Asylantrag war dann nach § 14 AsylG beim Bundesamt zu stellen (vgl. § 19 Abs. 1 AsylG und Marx, a.a.O., § 13 Rn. 6 f. und § 19 Rn. 5). [...]

33 Der Bruder des Klägers hat das Asylgesuch auch wirksam als Bevollmächtigter für den Kläger stellen können. Ein gesetzliches Verbot der Antragstellung durch einen Bevollmächtigten existiert nicht. Der Schutzsuchende muss die Willenserklärung daher nicht persönlich gegenüber dem behördlichen Adressaten abgeben. Das formlose Schutzbegehren im Sinne von § 13 Abs. 1 und § 26 Abs. 3 AsylG kann also auch durch einen bevollmächtigten Vertreter oder einen zur Überbringung der Willensäußerung ermächtigten Boten geäußert werden (Treiber, a.a.O., § 13 Rn. 69 m.w.N.). [...]

34 Der Wirksamkeit des durch den Bruder des Klägers gestellten Asylgesuchs steht auch nicht entgegen, dass der Kläger im Zeitpunkt des Gesuchs noch nicht in das Bundesgebiet eingereist war. Zwar ist ein Asylgesuch erfolglos, solange sich der Schutzsuchende nicht wenigstens an der deutschen Grenze befindet. Denn das Asylgrundrecht entsteht ebenso wie die Ansprüche auf internationalen Schutz im Bundesgebiet erst mit dem Erreichen der Bundesgrenze (vgl. Treiber, a.a.O., § 13 Rn. 85 f.). Ob ein Asylgesuch im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG vorliegt, ist aber schon nach dem klaren Wortlaut der Vorschrift nicht von den Erfolgsaussichten des Schutzbegehrens abhängig (im Ergebnis ebenso Treiber, a.a.O., § 13 Rn. 88). Maßgeblich ist allein, ob das Gesuch inhaltlich als Verfolgungsschutzbegehren aufzufassen ist. [...]

35 [...] Ob ein Asylgesuch im Sinne der §§ 13 und 26 AsylG vorliegt, entscheidet sich nicht nach Verschuldenskriterien und insbesondere nicht danach, ob der Schutzsuchende es zu vertreten hat, dass ein solches Gesuch nicht schon früher oder klarer geäußert worden ist. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Regelungen, der dahin gehende Beschränkungen nicht enthält. Anders wäre auch der Zweck der Regelungen, die jedenfalls auch in Übereinstimmung mit den grundgesetzlichen Vorgaben und dem internationalen Flüchtlingsrecht den effektiven Schutz Verfolgter sicherstellen und eine den gesetzlichen Anforderungen genügende Überprüfung von Schutzgesuchen ermöglichen wollen, nicht zu erreichen. Dem Schutzsuchenden kann daher nicht entgegengehalten werden, dass er es schuldhaft versäumt hat, ein klares Asylgesuch zu stellen, wenn jedenfalls eine der für ihn abgegebenen Erklärungen nach dem insoweit maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont als Asylgesuch auszulegen ist. [...]

38 [...] Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG muss der Schutzsuchende den Asylantrag, wenn er nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für das Kind eingereist ist, unverzüglich nach der Einreise in das Bundesgebiet gestellt haben. Eine unverzügliche Antragstellung in diesem Sinne liegt vor, wenn der Antrag ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB) nach der Einreise gestellt wird. Dies ist hier nach dem Wortlaut der Regelung nicht der Fall, weil das wirksam durch den Bruder des Klägers gestellte Asylgesuch nach den Feststellungen des Gerichts bereits am 22. Dezember 2017, also vor der Einreise des Klägers, geäußert worden ist. [...]

39 Die Vorschrift ist aber jedenfalls dann analog anzuwenden, wenn das Asylgesuch – wie hier – vor und in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Einreise des Schutzsuchenden gestellt worden ist. Dieser Sachverhalt stimmt in allen nach dem Zweck der gesetzlichen Regelung maßgeblichen Gesichtspunkten mit den vom Gesetzeswortlaut umfassten Fällen überein und ist daher zwingend gleich zu behandeln. Zweck der Regelung ist es vor allem zu gewährleisten, dass über die Anträge einer Flüchtlingsfamilie möglichst rasch, einheitlich und ohne überflüssigen Prüfungsaufwand entschieden werden kann. Dies soll die zügige Integration der Familie erleichtern (vgl. auch Marx, a.a.O., § 26 Rn. 3). Dieser Zweck wird auch durch Asylgesuche erreicht, die von Familienangehörigen für den Schutzsuchenden vor dessen Einreise und in engem zeitlichen Zusammenhang mit dieser gestellt werden. Maßgeblich ist, dass in diesen Fällen nach der Einreise bereits ein Asylgesuch vorliegt, das die Behörden in die Lage versetzt, die zur Durchführung des Asylverfahrens erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen und damit eine möglichst zeitnahe Entscheidung über das Familienasyl bzw. den Familienflüchtlingsschutz herbeizuführen. [...]