LG Hagen

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Zitieren als:
LG Hagen, Beschluss vom 12.04.2022 - 3 T 58/22 - asyl.net: M30564
https://www.asyl.net/rsdb/m30564
Leitsatz:

Abschiebungshaft vor Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise rechtswidrig:

1. Wird eine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt, muss die Ausländerbehörde zunächst den Ablauf der Ausreisefrist abwarten, bevor sie Sicherungshaft beantragt. Betroffene vor dem Ablauf der Ausreisefrist in Sicherungshaft zu nehmen, stellt einen gravierenden Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar.

2. Ein Haftantrag bedarf gemäß § 417 Abs. 2 FamFG nachvollziehbarer, konkreter und auf den Einzelfall bezogener Tatsachen zu Zeitpunkt sowie Art und Dauer der Abschiebung.

3. Ergibt sich die Ausreisepflicht aus einem vollziehbaren Bescheid, muss dieser Bescheid im Antrag ausdrücklich benannt werden und dargelegt werden, auf Grund welcher Tatsachen von einer wirksamen Zustellung oder Zustellungsfiktion des Bescheids ausgegangen wird.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BGH, Beschluss vom 15.12.2020 - XIII ZB 93/19 - asyl.net: M29378; BGH, Beschluss vom 27.11.2011 - V ZB 311/10 - bundesgerichtshof.de)

Schlagwörter: freiwillige Ausreise, Frist, Abschiebungshaft, Sicherungshaft, Haftantrag, Zustellung, Ausreisefrist,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 62 Abs. 2 S. 4, FamFG § 417 Abs. 2, AufenthG § 50 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Anordnung der Sicherungshaft stellt sich aus mehreren Gründen als rechtswidrig dar und ist daher aufzuheben.

1. Die Rechtswidrigkeit der Anordnung folgt zunächst daraus, dass die Betroffene keine Möglichkeit hatte, der mit der Ausreiseverfügung, Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung vom 20.03.2022 gesetzten Ausreisefrist bis zum 27.03.2022 freiwillig nachzukommen, da sie bereits am 20.03.2022 in Haft genommen worden ist.

Die Ausländerbehörde hätte zunächst den Ablauf der ausdrücklich gesetzten Ausreisefrist abwarten müssen, bevor sie die Sicherungshaft beantragt. Denn indem die Behörde der Betroffenen ausdrücklich eine Frist zur freiwilligen Ausreise gesetzt hat, hat sie der Betroffenen gegenüber zu erkennen gegeben, die Ausreisepflicht erst nach Ablauf der Frist vollziehen zu wollen (vgl. auch § 50 Abs. 2 AufenthG). Ansonsten liefe die gesetzte Ausreisefrist nach Sinn und Zweck vollständig ins Leere. Die Betroffene vor Ablauf der ihm gesetzten Frist zur freiwilligen Ausreise in Sicherungshaft zu nehmen, stellt nach Ansicht der Kammer einen gravierenden Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar.

2. Die Anordnung der Sicherungshaft stellt sich auch deshalb als rechtswidrig dar, weil der Haftantrag aufgrund formeller Mängel unzulässig ist.

Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags nach § 417 FamFG ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind - ausreichende - Darlegungen zur zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zur Erforderlichkeit der Haft, zur Durchführbarkeit der Abschiebung und zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). [...]

a. Die Ausführungen zur konkreten Haftfortdauer genügen nicht im Geringsten den gesetzlichen Anforderungen. Es sind eingehende Ausführungen zur Haftdauer erforderlich. Der Haftantrag muss nachvollziehbaren Vortrag enthalten, der den Tatrichter und den Betroffenen in die Lage versetzen kann, die Rechtmäßigkeit zu prüfen. Erforderlich ist daher nachvollziehbarer Vortrag, der konkrete Nachfragen seitens der Haftgerichte ermöglicht (BGH, Beschluss vom 26. Januar 2021 - XIII ZB 14/19 - Rn. 12, juris m.w.N.; BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 78/20, zit. n. juris). Dies setzt auch Ausführungen voraus, die dem Gericht das Anstellen einer Prognose ermöglichen, ob die Abschiebung innerhalb des Haftzeitraums tatsächlich durchgeführt werden kann (z.B. durch Nennung näherer Einzelheiten zum geplanten Rücktransport). [...]

Vorliegend fehlt es an der Nennung jeglicher konkreter, auf den Einzelfall bezogener Tatsachen zum Zeitpunkt sowie zur Art und Dauer der Abschiebung. Im Haftantrag ist noch nicht einmal ein vorgesehener Termin für eine Abschiebung benannt worden, geschweige denn überhaupt angegeben, auf welche Weise die Abschiebung durchgeführt werden soll. Eine konkrete Flugbuchung ist offensichtlich nicht erfolgt. Der entsprechende Passus im Haftantrag erschöpft sich in allgemein gehaltenen Floskeln ("erfahrungsgemäß"), die keinen hinreichenden Bezug zum Einzelfall herstellen. Insgesamt fehlt der Kammer schlichtweg jeglicher Anhaltspunkt, um gemäß § 62 Abs. 2 S. 4 AufenthG prognostizieren zu können, ob die Abschiebung innerhalb angeordneten Haftdauer erfolgen kann. Die beantragte Haftdauer ist mit 12 Wochen auch keinesfalls so kurz, als dass sich ihre Notwendigkeit von selbst verstünde (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2021 - XIII ZB 78/20 -, Rn. 9, juris).

b. Des Weiteren fehlen im Antrag Angaben zur Zustellung der darin in Bezug genommenen Ausreiseverfügung vom 20.03.2022.

Ein zulässiger Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG Ausführungen dazu enthalten, dass und auf welcher Grundlage der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig ist. Ergibt sich die Ausreisepflicht der Betroffenen - wie hier - aus einem vollziehbaren Bescheid, muss dieser Bescheid im Antrag nicht nur ausdrücklich benannt, sondern auch dargelegt werden, auf Grund welcher Tatsachen von einer wirksamen Zustellung oder Zustellungsfiktion ausgegangen wird (BGH Beschl. v. 15.12.2020 - XIII ZB 93/19, BeckRS 2020, 41557). [...]